10 Jahre UN-BRK – gute Chance, fahrig verspielt

10 Jahre UN-BRK – gute Chance, fahrig verspielt

Am 22. Januar 2011, also heute vor 10 Jahren, ist die UN-Behindertenrechtskonvention (im Folgenden kurz als BRK bezeichnet) in der Europäischen Union in Kraft getreten. Deutschland hat diese Konvention feierlich am 3. Dezember 2009, symbolisch am Welttag der Menschen mit Behinderungen (der mir persönlich jährlich am sprichwörtlichen Allerwertesten vorbei geht um ehrlich zu sein, siehe diesen Tweet), ratifiziert.

Meine Freunde von der Nachrichtenseite Kobinet haben heute bereits Resümee gezogen und dabei insbesondere die Europa-Abgeordnete Katrin Langensiepen ausführlich zu Wort kommen lassen, dringliche Leseempfehlung an dieser Stelle. Ihr Fazit nach 10 Jahren BRK ist vernichtend – und meines ist es leider insgesamt auch, wenn auch speziell für Deutschland (in anderen Ländern habe ich nicht lange genug gelebt, um eine fundierte Meinung bilden zu können) vielleicht aus leicht unterschiedlicher Motivation.

Stolz, überlasst ihn nicht den Rechten!

Ich weiß ehrlich gesagt an dieser Stelle noch nicht, ob ich diesen Beitrag schreiben bzw. veröffentlichen sollte, von langer Hand geplant hatte ich ihn jedenfalls nicht. Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, ob ich genügend Stoff zusammen bekomme, um ihn im Spektrum des Lesenswerten zu behalten.

Lasst mich einfach beginnen mit einer vielleicht etwas kontroversen Aussage: Deutschland hatte noch vor 10 Jahren von allen EU-Ländern mit die beste Ausgangsposition für die Umsetzung der BRK!

Natürlich rein wirtschaftlich betrachtet, nicht umsonst wird Deutschland selbst in US Medien gerne als „powerhouse“ bezeichnet, aber ich meine dies durchaus auch gesellschaftspolitisch. Ich bin, auch noch heute, stolz darauf, was Deutschland meinen Eltern und mir in meinem bisherigen Leben ermöglicht hat. Rollstuhlversorgung, Heimbeatmung, Nachtwachen zur Entlastung meiner Eltern, Einschulung in das Regelgymnasium vor Ort, Abitur, persönliche Assistenz, Studium… Das alles sind Dinge, deren Ermöglichung ich nicht für selbstverständlich erachtete und für die ich für immer dankbar sein werde! Nicht, weil ich finde, dass ich es muss, sondern weil ich es faktisch bin.

Hier mag ich tatsächlich von Teilen des linken Aktivistenspektrums divergieren (ein anderes großes Thema, bei dem ich dies gelegentlich tue, werde ich vielleicht in den nächsten Monaten mal separat ansprechen, das wird auf jeden Fall für Diskussionsstoff sorgen), aber ich finde, auf die positiven Errungenschaften dürfen wir auch in diesem Land ruhig mal ein bisschen stolz sein.

Nationalstolz wird gerne pauschal in die rechte Ecke geschoben. Der Begriff gefällt mir jetzt auch nicht sonderlich, aber für mich macht es schon einen gewaltigen Unterschied, ob man stolz auf eine konkret vollbrachte Leistung ist (finde ich sehr legitim) oder einfach nur auf seine Nationalität. Die rechten Pfeifen und Evolutionsbremsen haben halt bis auf ihr „Deutschsein“ keine eigene Leistung oder Errungenschaft vorzuweisen, auf die sie stolz sein könnten, und ersetzen diese Kennzeichnungsmerkmale dann halt durch das Fleckchen Erde, auf welchem sie aus einer Vagina gepresst wurden. Hooray!

Aber zurück zur BRK und ihre Umsetzung – leider finde ich, dass Deutschland in den letzten 10 Jahren, auch speziell während seiner Ratspräsidentschaft, seine Chancen fahrig verspielt hat. Wenn ich einige meiner (etwas älteren) behinderten Freunde frage, was sich für sie zwischen sagen wir 2008 und 2021 (immerhin eine halbe Generation) konkret gebessert hat, ernte ich natürlich persönliche Anekdoten, positiv wie negativ, aber auch viel Schulterzucken.

Und ich muss selber auch gestehen, dass die Phasen, in denen ich stolz auf die Errungenschaften in Deutschland war, in den letzten Jahren merklich nachgelassen haben leider. Stolz ist ein schönes Gefühl und ich würde es liebend gerne wieder zurück haben.

So sah ich in meinem Leben nur zur WM 2014 aus, versprochen! 😉

Von Inklusion zu IPReG

Ein für mich persönlich negativer Höhepunkt dieser stagnierenden bis rückläufigen Entwicklung war im Sommer 2020 das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG), welches, verkürzt ausgedrückt, die Heimbeatmung als Hilfsmittel im Alltag aberkennt und stattdessen als medizinischen Makel deklariert, den es um jeden Preis (und ja, primär geht es bei dem Gesetz wie bei ziemlich jedem Gesetz aus dem Gesundheitsministerium um Geld) zu entfernen gilt. Entwöhnt euch von der Beatmung oder euer selbstbestimmtes Leben steht alle 6 Monate auf dem Prüfstand! Letzteres selbstverständlich entgegen insbesondere Artikel 19a der BRK.

Das IPReG habe ich bereits an mehreren Stellen ausführlich kommentiert, unter anderem in seiner finalen Fassung in diesem Beitrag sowie in diesem Podcast. Aktuell befindet sich das IPReG zur Erarbeitung konkreter Umsetzungsrichtlinien vor dem gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), mit dem ich mit anderen Aktivist/-innen zum Glück in regelmäßigem Kontakt stehe. Eine Umstrukturierung dieses gesetzgeberischen Organs halte ich jedoch für unausweichlich wie in dieser Petition gefordert.

Aber leider war das IPReG auch nicht der erste Anlass, zu dem sich Deutschland bei der Umsetzung der BRK nicht mit Ruhm bekleckerte. Obwohl ich damals noch nicht besonders in der Aktivistenszene vernetzt war, hat das Teilhabegesetz 2016 hohe Wellen geschlagen. Und ganz ehrlich, wenn man Erfahrungsberichte wie diesen liest, fragt man sich auch, wie es um die Inklusion in Deutschland generell bestellt ist.

Ich weiß leider, dass Inklusion in der Gesellschaft verstärkt als „Nervthema“ wahrgenommen wird. Und ganz ehrlich, so ein klein bisschen kann ich das nachvollziehen. Wenn man, was in diesem Land leider geschieht, das Thema einerseits akademisiert (eine von Universität und Innenministerium der Länder ausgearbeitete Kampagne wird nicht die wahre Inklusion bringen, eher im Gegenteil) und andererseits primär auf das Thema Schulen beschränkt, ist dieser Eindruck nicht von der Hand zu weisen leider.

Inklusion in der Schule ist für mich ein schwieriges Thema – ich halte sie für 100 % erstrebenswert, bezweifle aber tatsächlich, dass sie sich in unserem derzeitigen Schulsystem (welches Wurzeln im Preußen des 19. Jahrhunderts hat!) vollumfänglich realisieren lässt. Wir brauchen eine Bildungsrevolution in diesem Land (meine ich nur teilweise in dem Sinne, in dem Richard David Precht sie versteht) – und zeitgleich wäre dann auch die vollumfängliche Inklusion umsetzbar, vorher halte ich das jedoch für einzelne Schulen tatsächlich für schwierig.

Inklusion ist jedoch ein viel weiter greifender Begriff, der alle Bereiche des alltäglichen Lebens von Mobilität über Bausparvertrag bis zur Kneipenszene in eurer nächsten Stadt umfasst. Einen Versuch einer aktuellen Definition und Standortbestimmung hat unter anderem meine Bloggerkollegin Laura Mench im Dezember gewagt. Letztendlich greift manchmal die soziale und gesellschaftliche Komponente bei der Erläuterung des Begriffs zu kurz wie ich finde, wie ich selbst unter anderem in diesem Beitrag erläutert habe.

Wenn man mich heute fragt, wie ich zur Inklusion als Ganzes stehe, wirkt das für mich ehrlich gesagt ein bisschen so, als würde man mich fragen, wie ich zur Freiheit als Ganzes stehe. Das Konzept ist so allgemein und sollte in unserer Gesellschaft eine solche Selbstverständlichkeit darstellen, dass es jedem von uns schwer fallen dürfte, überhaupt etwas Substanzielles über dieses Thema beizutragen, es sei denn man wird philosophisch.

Leider ist die Realität 2021 in Deutschland jedoch eine andere. Es tut mir persönlich weh, diese Zeilen zu schreiben, speziell wo ich doch in den Augen vieler anderer Menschen mit Behinderung „privilegiert“ bin und das ist mir auch sehr bewusst, aber die Fälle, in denen ich mich als praktisches Problem oder als Last empfunden habe, haben über die Jahre zugenommen. Es ist unmöglich, zu differenzieren, inwiefern dies an Veränderungen in Politik und Gesellschaft generell oder an Veränderungen meiner Lebensphase, vielleicht auch als Ausdruck meiner Depression, liegen könnte.

Dann ist da zuletzt noch der Elefant im Raum, den ich bisher ignoriert habe, nämlich Corona.

Zum Glück nicht sehr häufig, aber es ist vorgekommen, dass mir vorgehalten wurde, die ganzen Maßnahmen wie der Lockdown seien doch „nur wegen Leuten wie mir“ installiert worden. Als hätten selbstbestimmt lebende Menschen mit Dauerbeatmung insgeheim eine größere Lobby als alle Wirtschaftsvertreter zusammen – aber die Lobby war dann doch nicht groß genug, um IPReG ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte zu verbannen. Komisch.

Auf der anderen Seite steht das generelle Versagen des von Herrn Spahn geführten Gesundheitsministeriums bei der Impfstoffbeschaffung, das ich gar nicht groß weiter kommentieren möchte, es ist offensichtlich.

Aber auch bei der Priorisierung des vorhandenen Impfstoffs wurden Risikopatienten in ambulanter Versorgung, zu denen ich zweifellos gehöre, zunächst vergessen. Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) wurde inzwischen nach Protesten sowie nach dieser Petition zu unseren Gunsten verändert (so sind Einzelfallentscheidungen möglich und werden sogar empfohlen), Eingang in die Impfverordnung sowie in die Empfehlungen der Länder haben diese Änderungen jedoch Stand heute noch nicht gefunden.

Wobei ich jedoch in dieser Hinsicht nicht nur pessimistisch bin zum Glück, so wurde meinen persönlichen Assistenten schon eine sehr baldige zentrale Impfung in Aussicht gestellt. Was ich absolut befürworte und gerechtfertigt finde, auch wenn nicht nur meine Assistenten es komisch finden, voraussichtlich vor mir an der Reihe zu sein. Als Begründung hieß es nur „wir sind wahrscheinlich einfacher“ – ist nicht so gemeint, aber was das im Umkehrschluss für mich bedeutet, kommentiere ich jetzt mal nicht weiter. Hier schließt sich leider auch der Kreis zu einem vorigen Absatz.

Deutschland, habe mehr Mut…

…voranzugehen und der Welt als positives Beispiel zu dienen. Nein, es ist bei weitem nicht alles schlecht. Du hast aber immer noch die Möglichkeiten, es besser als andere Länder zu machen, aber nutze sie auch!

Wir haben es uns lange bequem gemacht in so vielen Bereichen. In der Behindertenpolitik, aber auch beispielsweise beim Klimaschutz, auch in der Sozialpolitik und bei der Pandemiebekämpfung.

Die UN-Behindertenrechtskonvention mag derzeit in Europa auf der Intensivstation liegen, gestorben ist sie allerdings meines Erachtens noch nicht!

Leider erkenne ich Parallelen zwischen deutscher Politik und dem FC Schalke 04 im Frühsommer 2020. Man hat eine ganz gute Hinrunde gespielt, fährt keine Siege mehr ein und rutscht peu à peu ins Mittelfeld ab. Aber ist ja nicht so schlimm, sind ja noch genug andere Mannschaften schlechter als wir.

Deutschland, pass auf und werde wieder progressiver, du hast es nicht verdient, dein königsblaues Wunder zu erleben!

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