Behinderung und Einsamkeit – fehlt der Inklusion ihre soziale Komponente?

Behinderung und Einsamkeit – fehlt der Inklusion ihre soziale Komponente?

Heute Vormittag wurde auf der Webseite des nationalen niederländischen Nachrichtenportals NOS dieser Artikel veröffentlicht und ich muss gestehen, dass mich sein Inhalt ziemlich mitgenommen hat. Auch und vielleicht gerade weil vielleicht viele meiner Leser das Gefühl von Isolation aus aktuellem Anlass nachempfinden können. Es ist schließlich gerade Corona. Und nicht zuletzt ist auch noch November.

Ich habe heute spontan in meiner, hauptsächlich deutschsprachigen, Twitter-Bubble gefragt, ob genügend Interesse besteht, dass ich hier den Inhalt des Artikels wiedergebe, was bejaht wurde. Als Sohn einer Übersetzerin werde ich dann mal versuchen, meiner Pflicht nachzukommen (auch wenn dies sicherlich kein Karriereweg für mich darstellt, fragt gar nicht erst^^).

Der folgende Absatz ist eine direkte Übersetzung des oben verlinkten Artikels, der abschließende Absatz enthält kurz ein paar meiner eigenen Erfahrungen zu diesem wichtigen Thema.

Symbolbild

Kinder mit Behinderungen leben immer noch sozial isoliert

Viele Kinder mit einer Behinderung sind einsam. Sie kommen auf Spielplätzen nicht gut zurecht, weil diese nicht angepasst sind und soziale Aktivitäten in der Nachbarschaft gestalten sich sehr schwierig. Zu diesem Schluss gelangte die Stiftung „Das Behinderte Kind“ in einem Bericht zu Beginn der ersten Woche des Behinderten Kindes.

Diese Aktionswoche, organisiert anlässlich des 70-jährigen Bestehens der Stiftung, soll Aufmerksamkeit für die sozialen Schwierigkeiten von Kindern mit einer Einschränkung schaffen. Die Studien vergleichen die Situation von 1950 mit der von 2020. Zwar habe sich die medizinische und pflegerische Versorgung für Behinderte stark gebessert, aber bezüglich der sozialen Teilhabe sei noch viel Luft nach oben, muss die Stiftung konstatieren.

Heute startet die Woche des Behinderten Kindes. Zusammen sorgen wir dafür, dass Kinder mit einer Behinderung nicht einsam aufwachsen, dass sie einfach nur mitmachen können. Ob in der Schule, auf dem Spielplatz oder im Sportverein. Hilfst du auch mit? #KeinKindOhneFreunde

Niederländische Stiftung „Das Behinderte Kind“

Henk-Willem Laan, Direktor der Stiftung, musste bei Radio 1 sogar feststellen, dass die Lage sich zurückentwickelt habe. „Das hat uns schon erschreckt.“

Kinder mit einer Behinderung bekommen heutzutage spezialisierte Pflege und besuchen spezielle Sportvereine. Laan mahnt an, dass die Kehrseite hiervon sei, dass die Kinder weniger Kontakte zu ihren Altersgenossen ohne Behinderung hätten. „Was ein Kind am liebsten möchte ist zusammen zu spielen oder Sport zu treiben“, sagt er.

Oft können behinderte Kinder auch nicht in ihrer Nachbarschaft zur Schule gehen, weil nicht alle Schulen angepasst sind, oder sie besuchen Sonderunterricht. Aus der Studie geht ebenso hervor, dass 85% der Kinder, die nicht ihrer Nachbarschaft zur Schule gingen, dort keine Freunde hätten.

Niemand weiß so richtig wie sie mit mir umgehen müssen, also gehen sie eigentlich gar nicht mit mir um.

Marie-Claire (13)

Die 13-jährige Marie-Claire Lanser hat eine angeborene Muskelerkrankung. Mehrere weiterführende Schulen wollten sie abweisen, weil die Anpassung der Schule zu lästig geworden wäre, sagt sie. „Offiziell ist das strikt verboten, aber es passiert trotzdem“, sagt sie. Hierdurch kann sie keine Schule in ihrer Nähe besuchen. „Es ist weit weg, also muss ich mit dem Taxi fahren, sonst kostet es zu viel Energie.“

Folglich kann Marie-Claire auch nicht mit ihren Freundinnen in die Schule: „Es ist lästig, mich zu verabreden. Das muss am Wochenende oder in den Ferien passieren.“ In ihrer Nachbarschaft hat sie keine Freunde. „Niemand weiß so richtig wie sie mit mir umgehen müssen, also gehen sie eigentlich gar nicht mit mir um. Sie ignorieren mich ein bisschen, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt.“

Am liebsten würde sie sehen, dass behinderte und nicht-behinderte Kinder einfach zusammen im Klassenzimmer sitzen würden. „Wenn alle zusammen in der Klasse sitzen, gewöhnt man sich aneinander.“

Barrierefreiheit in den Köpfen

Henk-Willem Laan: „Du würdest wollen, dass Kinder sich so früh wie möglich begegnen. Ein Teil betrifft die physische Barrierefreiheit, aber ein Teil sitzt auch in der Barrierefreiheit in den Köpfen. Es gibt Schulen, die sagen: Komm hier besser nicht hin, weil du der oder die einzige im Rollstuhl bist und dich alle komisch anschauen.“

Herrn Laan zufolge leiden Menschen mit Behinderungen auch im späteren Leben unter Folgeerscheinungen: „Der Mangel an schönen Kindheits- und Jugendmomenten beeinträchtigt deine Entwicklung. Aktuell gibt es in den Niederlanden keine Gruppe, die sich einsamer fühlt als die erwachsener Menschen mit einer Behinderung.“

Neue Zeit, ähnliche Erfahrungen

Soweit der niederländische Artikel.

Persönlich muss ich an dieser Stelle ein riesiges Dankeschön richten an sowohl den Schulleiter meiner Körperbehinderten-Grundschule als auch an den Schulleiter unseres örtlichen Gymnasiums. Zusammen haben die beiden Herren mir im Sommer 1999 einen Wechsel auf die örtliche Regelschule ermöglicht, zu einer Zeit, als „Inklusion“ noch wenn überhaupt nur Soziologiestudent/-innen ein Begriff war.

Ich muss gestehen, die Tatsache, dass ich in der weiterführenden Schule trotz wirklich gelungener Inklusion größtenteils Einzelgänger geblieben bin, hatte vorwiegend charakterliche Gründe. Meine Hobbies und Interessen waren selten mit denen meiner Klassenkamerad/-innen kompatibel. Trotzdem waren sicherlich auch viele Lehrer von meiner Präsenz überfordert und andere haben mir sehr viel durchgehen lassen. Nicht mal primär aufgrund meiner Behinderung, sondern auch, weil ich ein sehr guter Schüler war. Ich habe mich oft gefragt, wie die gleichen Lehrer wohl mit einem mittelmäßigen oder chronisch faulen Schüler mit einer vergleichbar schweren Körperbehinderung umgegangen wären.

Tim, kannst du mal bitte dein Beatmungsgerät ausschalten? Das Geräusch stört meinen Unterricht.

Englischlehrerin 7. Klasse, zum Glück ein sehr seltenes Negativbeispiel

Nicht mal aufgrund physischer Barrierefreiheit ist mir jedoch der Sachverhalt aus dem Artikel leider vertraut. War zu meiner Schulzeit mein Interesse daran, in eine Sozialgruppe aufgenommen zu werden, meistens noch eher gering – spätestens zu meiner Studentenzeit etwa 700 km entfernt hatte ich dieses Bedürfnis. Und während man mit viel Mühe einen Hörsaal barrierefrei umrüsten kann (für eine Rampe an unserem Hauptgebäude musste unser Behindertenbeauftragter 20 Jahre lang kämpfen!) – die meisten Kneipen in der Altstadt bleiben uns für immer verwehrt. Ich würde lügen, würde ich mir nicht wünschen, ein wesentlicherer Teil meines Studentenlebens hätte dort stattgefunden.

Mit dem Rollstuhl auf der Tanzfläche, Sputnikhalle Münster, 1. Dezember 2018

„Wie verhalte ich mich auf einer Party/in einem Club?“ ist eine Frage, die sich nur wenige Menschen mit 23 oder 24 Jahren überhaupt noch stellen. Ich muss zugeben, erst in diesem Alter so ein bisschen Interesse an Selbigem entwickelt zu haben. Die Chance, dass die Kommilitonen aus deiner Studiengruppe zufällig in den einzigen barrierefreien Club in der Stadt gehen sind eher gering, zumal dieser eher wenig studentisch geprägt war und ist. Ja, man kann alleine feiern gehen und wären wir nicht in einer Pandemie, hätte ich das auch jeder Leserin und jedem Leser ans Herz gelegt. Aber ja, sowas kostet auch gewaltig Überwindung und wertvolle Erfahrungen tut man dabei auch nicht an jedem Abend auf.

Ich sehe inzwischen tatsächlich meine Unerfahrenheit als ein Hauptproblem an. Netzwerken, Beziehungen aufbauen, alles dies gehört zum Berufsleben genauso dazu wie, zumindest für die meisten Menschen, zum privaten Glück. Sicherlich gibt es auch Menschen mit Behinderungen, für die diese Dinge selbstverständlich sind sowie Menschen ohne Körperbehinderung, die sich mit ihnen genauso schwertun. Aber im Großen und Ganzen muss ich sagen, dass ich die Erkenntnisse aus der niederländischen Studie auch für Deutschland kaum in Zweifel ziehe.

Disclaimer: Meine Familie ist niederländisch, ich selbst habe jedoch nie in meinem Leben dort gewohnt. Für Leben mit Assistenz oder barrierefreies Wohnen in den Niederlanden bin ich persönlich also leider der falsche Ansprechpartner. Es besteht jedoch auch in diesen Bereichen noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Wertvolle Informationen zu diesen Themen finden sich zum Beispiel auf www.fokuswonen.nl sowie natürlich bei diversen Behindertenverbänden.

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

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