Intensives Fremdschämen

Intensives Fremdschämen

Was war das denn??

Ihr habt die öffentliche Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags zum geplanten Intensivpflegestärkungsgesetz (IPReG) vergangenen Mittwoch verpasst?

Kein Wunder, sie war ja schließlich auch nicht öffentlich.

Der Gesetzgebungsprozess erfordert schließlich nun einmal, dass die Veranstaltung diesen Namen erhält.

Aber die negativen Auswirkungen des Gesetzentwurfs betreffen ja ohnehin nur Menschen mit Dauerbeatmung, die „schwerkrank“ entweder im Krankenhaus oder in Intensivpflegeeinrichtungen oder -wohneinheiten vegetieren. So, wie ich eben auf dem Titelbild dieses Beitrags während der letzten Beatmungsüberwachung im Sommer 2018.

Gerade in Zeiten von Corona haben diese Menschen noch anderes zu tun, als sich am Gesetzgebungsprozess zu beteiligen. Also muss auf diese Öffentlichkeit gerade in diesen Tagen nicht besonders Rücksicht genommen werden. Wir kümmern uns ja im Gesetzentwurf nach wie vor ganz rührend um die armen, schwerkranken Beatmeten … wir sind einfach so tolle Menschen!

Technik, die entgeistert

„Herr Mustermann, wir können Sie nicht hören.“

*gluck* *gluck* *rauschen*

*fingernägelandertafelkratz*

„Könnt ihr mich jetzt hören? Könnt ihr mich auch sehen?“ *mitdenarmenfuchtel*

Bedankt euch, ich habe euch soeben locker die Hälfte der oben verlinkten 112-minütigen zeitversetzten Videoübertragung der Anhörung gespoilert bzw. erspart.

Ich kenne Software, mithilfe der Videokonferenzen speziell an unserem Uni-Fachbereich seit mehreren Wochen absolut reibungslos funktionieren. Aber, liebe Mitglieder des Deutschen Bundestags, ich kenne natürlich euch und euer Haus nicht, schon gar nicht in seinen technischen Gegebenheiten. Wäre es da nicht ziemlich anmaßend, wenn ich als außenstehende Person mich zum Experten in euren Angelegenheiten erklären würde und euch vorschreiben würde, wie ihr besser zu leben bzw. eure Konferenzen zu führen habt?

Eben, das denke ich auch. 🙂

Und wer in den vorigen Sätzen Sarkasmus findet, darf ihn gerne aufessen.

Gleichzeitig Professor und Sozialhilfeempfänger – IPReG macht’s möglich

Dieser Beitrag soll nur eine kurze Reaktion auf die Anhörung des Gesundheitsausschusses werden – inhaltliche Stellungnahmen und offene Briefe zum Gesetzentwurf (aktuelle Drucksache 19/19368 verlinkt) von Betroffenen gibt es schon wie Stickstoffmoleküle in unserer Druckluftbeatmung. Unter anderem auch in genau diesem Blog.

Eine sehr gute Reaktion auf die Anhörung wurde bereits gestern von meiner befreundeten Blogger-Kollegin Laura Mench geschrieben.

(Seriously, wenn ihr diesen Beitrag zu Ende gelesen habt, verliert keine Zeit und lest sofort den von Laura ebenso!)

Für alle Leser, die vielleicht nur 15 Minuten (oder auch etwas weniger) Zeit mitbringen, hier meiner Meinung nach die prägnantesten Passagen der Anhörung:

  • 12:15 – die Forderung nach baulichen Vorgaben für die außerklinische Intensivpflege sickerte bereits vergangene Woche durch. Sie mag, wie so vieles im IPReG, löblich klingen, gerade die Passage mit den Rettungswegen ist aber für viele Privatwohnungen schwer umsetzbar. Hier geht es, entgegen den Intentionen des Sachverständigen, dem Gesetzgeber nur sekundär darum, den Betrieb unsachgemäßer Wohneinheiten zukünftig zu untersagen. Die Bestimmung richtet sich leider gegen Privatwohnungen.

Ich habe es diese Woche bei Twitter schon geschrieben: Auf dem Land würden wir kein Personal für die 1:1-Versorgung finden, Innenstadtwohnungen sind vielleicht zu alt und zu klein für Intensivpflege (Rettungswege!) und wenn sich ein Beatmeter tatsächlich mal eine größere Wohnung oder gar ein Haus in Stadtnähe leisten kann, sorgen IPReG und auch Bundesteilhabegesetz im Tandem bald genug dafür, dass er sich diese nicht mehr leisten können wird. Ernst gemeinte Frage: Liebe Gesetzgeber, was wollt ihr, das wir tun?

  • 1:18:42 – bitte schaut euch die 9-minütige Befragung durch Nicole Westig, pflegepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, in voller Länge an!

Ich vergewissere euch, lobende Worte für ihre Partei von mir waren in meinen bisherigen 31 Lebensjahren spärlich gesät und ich vermute, dass sich daran auch in naher Zukunft nicht sehr viel ändern wird, aber hier wie auch in der erfolgten Bundestagsdebatte möchte ich Frau Westig ein wirklich großes Lob aussprechen! Es gäbe für mich als zu einem gewissen Teil auch sozialliberal geprägten Menschen weitaus Schlimmeres, als wenn die FDP zumindest in wichtigen Themenbereichen zu ihren liberalen Grundwerten zurückkehren würde. Ein liberales Korrektiv tut leider auch vielen Parteien, denen ich persönlich näher stehe, durchaus manchmal Not und das IPReG ist ein massiver Verstoß gegen Freiheitsrechte und müsste daher alle Mitglieder einer liberalen Partei ganz fundamental abstoßen.

Angesprochen werden hier von den von Frau Westig befragten Sachverständigen 2 ganz wesentliche Themen, die es leider noch nicht genügend in meine bisherigen Stellungnahmen zum IPReG geschafft haben:

Erstens, die feinfühlige und perfide Unterscheidung zwischen „Behandlungspflege“ und „medizinischer Behandlungspflege“. Hierdurch soll aber eine massive Kostenersparnis für die gesetzlichen Krankenkassen entstehen, weil für sämtliche nicht-medizinischen Assistenzleistungen eventuell andere Kostenträger ins Boot geholt werden können – mit allen hierdurch nachteiligen Folgen für die Betroffenen (beispielsweise die Anrechnung von erspartem Vermögen, weil Teilhabeleistungen unter die Sozialhilfe fallen).

Zweitens können sich die Eigenleistungsanteile in der ambulanten, häuslichen Intensivpflege unter dem IPReG sich dem Einzelsachverständigen Sebastian Lemme zufolge auf 2000 € bis maximal sogar 6000 € monatlich belaufen!

Wenn nicht bereits durch die Kostenträger erfolgt, sollen hier also selbst Menschen, die Steuern zahlen und in ihrem bisherigen Leben gut und vernünftig gewirtschaftet haben, systematisch in die Sozialhilfe gedrängt werden.

Ich persönlich arbeite in der Forschung und befinde mich hier noch im Keller der Karriereleiter – aber selbst, wenn ich eines Tages zum Professor berufen werden würde, wäre ich wohl nach den mittleren Zahlen des Herrn Lemme noch Sozialhilfeempfänger!

Pfeift euch das mal rein.

  • 1:40:48 – Die ersten beiden Fragen sowie deren Antworten von Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen). Auch Frau Schulz-Asche habe ich über die letzten Monate, auch im persönlichen Austausch auf Twitter, sehr zu schätzen gelernt.

Ob einer oder eine der befragten Sachverständigen es ernst meint mit der Selbstbestimmung behinderter Menschen ließ sich übrigens in dieser Anhörung mithilfe eines äußerlich simplen Kriteriums ermitteln:

Wurde der oder die Sachverständige von der CDU/CSU befragt? Wenn ja, ist er oder sie kein Verbündeter von uns.

Den meisten Eindruck in der Anhörung hat auf mich der bereits erwähnte Einzelsachverständige Sebastian Lemme, ein entschiedener Gegner des derzeitigen IPReG, hinterlassen. Ich habe euch seine öffentliche Stellungnahme hier verlinkt.

Eine dringliche Frage jedoch: Warum hat in der Anhörung kein Mensch mit Dauerbeatmung gesprochen und warum dauerte es 90 Minuten, bis überhaupt ein Mensch mit Behinderung das Wort bekam?

Für alle, die meinen, Beatmete hätten körperlich Schwierigkeiten, sich verbal zu artikulieren: Ich habe letzte Woche einen über 90-minütigen Fachvortrag gehalten (den Arzttermin, den ich Mittwochmittag hatte, hätte ich für euch gerne verschoben!).

Ich hätte euch am Mittwoch gerne zur Verfügung gestanden. Garantiert auch nicht nur ich, Laura hat in ihrem Blog bereits Ähnliches verlautet.

Nun soll das Gesetz am 2. Juli im Deutschen Bundestag in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Zufällig am gleichen Tag führe ich auch ein wichtiges Strategiegespräch mit meinem Doktorvater (auch wenn ich hierfür nach dem gestrigen Gespräch guter Dinge bin).

Vormittags entscheidet sich zu einem gewissen Teil also dann meine Zukunft als Mathematiker und nachmittags oder abends meine Zukunft als freier und selbstbestimmt lebender Mensch.

Sehr geehrte Bundestagsabgeordnete, wenn ich auf dieser Seite oder bei Twitter nicht ausdrücklich einer geänderten Vorlage des Gesetzentwurfs (es wird ziemlich sicher noch Änderungen geben, vielleicht sind diese aber nur semantischer Natur) zustimme und ihr in knapp 14 Tagen dem IPReG trotzdem zur Verabschiedung verhelft, habt ihr die demokratischen Stimmen von potentiell mir (derzeit keine deutsche Staatsbürgerschaft), aber auch von allen meinen Freunden und Kollegen verloren. Auf Lebenszeit.

Dies überträgt sich ebenso auf Fraktionen, die mehrheitlich für das IPReG stimmen. Und sei es nur mit einer Stimme mehrheitlich, dies ist meine persönliche 50+1-Regel.

Stimmen Sie mit NEIN!

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

Schreibe einen Kommentar