Massencrash eines Systems. In HD mit Spezialeffekten.
Mandatory Credit: Photo by John Minchillo/AP/Shutterstock (10662705h) Protestors demonstrate outside of a burning Minneapolis 3rd Police Precinct, in Minneapolis. Protests over the death of George Floyd, a black man who died in police custody Monday, broke out in Minneapolis for a third straight night Police Death, Minneapolis, United States - 28 May 2020

Massencrash eines Systems. In HD mit Spezialeffekten.

Mein Name ist Tim und ich bin geboren in Los Angeles, Vereinigte Staaten von Amerika.

Meine Klassenkameraden in der Grundschule haben einst immer damit angegeben, dass ihr Schulfreund aus L.A. kam, auch wenn ich keinerlei Erinnerungen habe und nur 15 Monate meines Lebens dort verbracht habe. Egal, es klang einfach cool 😉 Nach Sonne, Strand, Party. Nach Hollywood. Nach der großen weiten Welt.

Diese unterschwellige, und auf eine gewisse Weise auch peinlich oberflächliche, Popularität fand ziemlich genau mit dem Übergang in die weiterführende Schule ein jähes Ende. Zum Teil, weil meine Klassenkameraden und ich älter und erwachsener wurden und jeder von uns andere Charaktereigenschaften mehr wertschätzte als oberflächliche biografische Details, aber meines Erachtens gab es noch einen gewichtigeren Grund für diese Entwicklung:

George W. Bush 🙁

Es gab seither zwar noch ein kurzes Aufflackern in den Jahren 2008-09 unter Obama, aber ganz ehrlich, wann habt ihr zum letzten Mal einen Menschen außerhalb der USA gehört, der das Klischee (ich würde schon eher sagen das Stigma) vom „Land of the Free“ ohne unterliegenden Sarkasmus gebrauchte?

Dieser Sarkasmus hat sich allerspätestens in der aktuellen Woche in blanken, böswilligen Zynismus gewandelt.

Gewaltverherrlichung – gestern, heute und morgen

Seit Montag wird mein Geburtsland von einer neuen, tragischen Welle der Gewalt und der Ausschreitungen heimgesucht. Diesmal ausgehend von Minneapolis, Minnesota, wo an jenem Tag der 46-jährige schwarze Amerikaner George Floyd wegen Scheckkartenbetrugs angezeigt und in Gewahrsam genommen wurde – um anschließend von insgesamt 4 Polizisten auf offener Straße ermordet zu werden.

Das Originalvideo, aufgenommen von der Passantin Darnella Frazier, mit einer Länge von knapp über 9 Minuten ist für mich persönlich das verstörendste Video, welches ich je in voller Länge gesehen habe. Und das, obwohl so gut wie kein Blut darin zu sehen ist (welches auch in Videos durchaus für mich kein Neuland gewesen wäre). Ich belasse es auf dieser Seite bei der schon tragischen Reaktion der Passantin am Folgetag:

Reaktion der Augenzeugin Darnella Frazier einen Tag nach dem Mord

Infolge des Mordes durch eine staatliche Obrigkeit sinnen viele US-Bürger nach Rache – es scheint hierbei nicht mal unbedingt Einigkeit zu herrschen, gegen wen. Das System wird insgesamt für schuldig erachtet. Und leider kann ich nicht viel gegen diese Sichtweise hervorbringen.

George Floyd ist alleine in den letzten 6-7 Jahren nur das letzte in einer langen Liste tragischer Opfer rassistischer Polizei-/Justizgewalt:

Eine wahre Aufzählung aller und nicht nur der prominentesten Fälle vergleichbarer Natur würde alleine diesen Artikel füllen. Ich habe keine Recherche und lediglich eine Überlegung von etwa 25 Sekunden gebraucht, um diese kurze Liste niederzuschreiben.

Was jedoch anfing als ein Protest der schwarzen Community ist diesmal bereits zu einem nationalen Phänomen ausgewachsen. Augenzeugen berichten in verschiedenen Städten der USA, dass die Mehrheit der rebellierenden Demonstranten weiß sind. Es scheint, dass diese Woche natürlich auch sehr stark, aber nicht nur von der Rassenfrage bestimmt wird.

Natürlich hängt dies damit zusammen, dass dieser Mord in den Augen vieler brutaler, unmittelbar körperlicher Natur, gewesen ist. So makaber es klingen mag: Daran, dass Menschen erschossen werden, haben sich viele Amerikaner, wenn ihre Community nicht unmittelbar betroffen ist, schon beinahe gewöhnt. Einen Menschen 9 Minuten lang aktiv zu ersticken ist hingegen selbst für viele Menschen ohne klare politische Überzeugung aus wohlsituierteren Vierteln eine zu abscheuliche Tat.

Was die USA seit Jahren, und eigentlich seit Jahrzehnten, mindestens genauso plagt, ist die Klassenfrage. Und hiermit, in letzter Konsequenz, die Systemfrage.

Dieses komplexe Zusammenspiel von Fragen und Problemen ist es auch, welches dafür sorgt, dass wie angedeutet viele Demonstranten ihren Widerstand bewusst sehr breit fächern. Speziell geht es nicht nur gegen die Polizei bzw. die Staatsgewalt, sondern beispielsweise auch gegen die überregionalen Medien bzw. die Konzerne, die dahinter stehen:

Proteste vor dem CNN-Hauptquartier in Atlanta, 29. Mai 2020

Natürlich übt sich ein gewisser Teil der Demonstranten nicht in philosophisch/politologischer Systemkritik. Auch wenn ein Großteil der Demonstranten gerade in Minneapolis anfangs (auf ausdrücklichen Wunsch der Familie Floyds!) still und friedlich unterwegs war: Es gibt filmisch dokumentierte Plünderungen, Überfälle, Vandalismus und auch Brandstiftungen seitens der Demonstranten.

Weniger ich selber, aber meine amerikanischen Freunde (persönlich, nicht zu verwechseln mit „unseren amerikanischen Freunden“, die es nicht mehr gibt und vielleicht schon sehr lange nicht mehr gegeben hat Herr Altmaier) bekommen häufiger, natürlich zu Recht, die Meinung zu hören, dass Gewalt keine Lösung sei.

Das ist selbstverständlich richtig und unstrittig. Ich möchte lediglich, dass alle Menschen, die diesen Standpunkt betonen, für sich einmal laut und deutlich zur Kenntnis nehmen:

Donald Trump ist genauso ein Gewalttäter! Direkt, indirekt, in jeglicher Beziehung.

Genauso wie seine ganze Regierungsmannschaft. Genauso wie George W. Bush. Genauso wie der demokratische Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, der jetzt das Militär im Inneren einsetzen möchte. Genauso wie in etwas geringerem Ausmaß vielleicht leider auch, weil ich anfängliche Hoffnungen hatte, Barack Obama. Siehe Ferguson, siehe Standing Rock, siehe diverse Drohnenangriffe mit zivilen Opfern, siehe den Rekord an, zum Teil auch gewalttätig vorgegangenen, Abschiebungen.

Twitter hat bekannterweise vorgestern einen verschwörungstheoretischen Tweet Trumps von seiner Plattform gelöscht und gestern einen drohenden und gewaltverherrlichenden Tweet von der Seite des Weißen Hauses als solchen gebrandmarkt. Auch wenn ich, im Gegensatz zu den meisten Linken, Ersteres sehr kritisch sehe muss ich sagen – bei Letzterem darf es keine zwei Meinungen geben. Direkte Drohungen von Gewalt sind selbst unter der, sehr freien, amerikanischen Fassung der Redefreiheit verboten. Auch unter den AGBs von Twitter.

„Looting leads to shooting“ – im Kontext übersetzt „wer plündert, wird erschossen“ – heißt es seit Tagen aus diversen Kanälen des Weißen Hauses (das Originalzitat hierzu stammt von 1967). Nach dieser Logik müsste der Finanzminister der Vereinigten Staaten, Steven Mnuchin, jetzt jeden Moment das Zeitliche segnen (was ich ihm selbstverständlich nicht wünsche, bin strikt gegen jegliche Todesstrafe, lebenslang in einem unterfinanzierten, privaten US-Knast schon eher). Mnuchin ist aktuell der größte Plünderer und Barbar der USA, der in der Finanzkrise unzählige Menschen in den Suizid getrieben hat – wenn auch einer von Kapitalismus‘ Gnaden.

Bitte lasst uns aufhören, zu tun, als wäre Gewalt durch Anzug- oder Uniformträger in irgendeiner Weise anders zu beurteilen als Gewalt von der Straße. Trump ist nicht nur der Volltrottel, als den ihn hiesige Medien gerne darstellen. Der Mann ist ein Mörder und ein Gewaltverbrecher.

(Genauso war übrigens der Irakkrieg nicht einfach ein „strategischer Fehler“, wie Liberale in den USA inzwischen gerne behaupten, aber dieses Fass machen wir jetzt nicht auf.)

Wir müssen uns aber zuletzt auch ehrlich eingestehen, dass Gewaltverherrlichung von Seiten des Weißen Hauses „as American as apple pie“ ist. Zumindest zu meinen Lebzeiten wie auch wahrscheinlich zu denen unserer Eltern. Natürlich liegt es nahe, hierfür wie Michael Moore in seinem Klassiker „Bowling for Columbine“ primär das liberale Waffenrecht verantwortlich zu machen, aber die Ursachen gehen meines Erachtens darüber hinaus. Tief hinein in den Bereich der Außenpolitik. Ich empfehle euch wärmstens, euch diesen Artikel der australischen Autorin und Kommentatorin Caitlin Johnstone zu Gemüte zu führen.

Seriously, auch wenn ich bei weitem nicht immer mit ihr übereinstimme: Wenn ihr nur eine Sache aus meinem viel zu langen Kommentar mitnehmen wollt, dann folgt Caitlin beispielsweise auf Twitter.

I haven’t given up, though

Dieser finale Abschnitt dürfte euch überraschen: Ich möchte mich bedanken bei den lieben Menschen in und aus den USA, die ich über die letzten 5 Jahre kennenlernen durfte.

Ich war selbstverständlich vorher schon politisch interessiert. Dieser Wesenszug in mir wurde allerdings erst in vollem Ausmaß befeuert, als mir 2015 unter anderem von einem Assistenten ein Video von The Young Turks zugespielt wurde.

Der Kanal hat sich meines Erachtens seitdem erheblich verschlechtert, aber durch TYT habe ich Ende des Jahres Kyle Kulinski kennengelernt. Ich habe weiter oben auch bereits ein Video von ihm verlinkt. Kyle ist ein sozialdemokratischer Kommentator mit liberalen Einschlägen und wenn ihr auch aus Zeitgründen nur einem einzigen Kommentator aus den USA folgen möchtet, würde ich euch nahelegen, ihn zu wählen.

Ich mochte immer die USA und das, was ich über die Offenheit, die Spontanität, die Gastfreundschaft und die Herzlichkeit der Bevölkerung las und hörte. Ich wünschte mir damals auch noch, zum Beispiel eines Tages nach Berkeley (oder nach Boston) zu ziehen. Meine Idealvorstellung war nur leider niemals kompatibel mit der politischen Realität des Landes, siehe vor allem das nur spärlich vorhandene „Gesundheitssystem“.

Während der ersten Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders habe ich mich wahrscheinlich zum ersten Mal politisch ein klein wenig verliebt. 🙂 War alles, was der Mann sagte, realistisch oder umsetzbar? Mitnichten. Darum ging es mir aber gar nicht primär. Er machte mir lediglich Hoffnung in ein Land, in das ich realistisch betrachtet kaum noch Hoffnungen hatte.

Der Wahlsieg Trumps kam für die meisten von uns etwas überraschend, jedoch keineswegs als Schock.

Warum ich die US-Politik seither weiterverfolgt habe? Nun, ich habe seither wiederholt gesagt: Die US-Politik (und gewissermaßen übertragbar auf die Gesellschaft und das System) der letzten 4 Jahre war zumindest für mich wie ein einziger großer Autounfall. Ein Massencrash in HD mit Spezialeffekten. Natürlich leider sehr, sehr schlimm für die Betroffenen. Aber ganz ehrlich, kann man bei einem solchen Unfall wirklich wegschauen?

Es gab und gibt natürlich einzelne Lichtblicke, auch nach wie vor in den USA, aber auf die ganze Dynamik der Demokraten vs. Republikaner möchte ich in diesem Kommentar nicht eingehen, er ist ohnehin schon länger als ich es beabsichtigt hatte.

Fakt ist, ich bin persönlich 2020 zu der Überzeugung gelangt, dass die „revolution“, die Sanders in allen seinen Wahlkampfreden beschwören wollte, nicht aus der Politik kommen wird. In keinster Weise. Wenn, dann kommt sie direkt aus der Bevölkerung und von der Straße.

Das ist alles in einem Land, in dem mehr Schusswaffen als Menschen zu Hause sind, natürlich kein Satz, der einem leicht über die Lippen gehen sollte. Eine „friedliche Revolution“ nach dem Beispiel Gandhis ist nämlich dort leider ebenfalls völlig utopisch. Oder würdet ihr euch gerne dieser rechten Protesttruppe, die vermutlich zu großen Teilen die Staatsgewalt an ihrer Seite hätte, gegenüberstellen wollen?

Protest gegen die Coronamaßnahmen im Michigan State Capitol

Ich weiß es nicht. Wenn jemand von euch eine konstruktive Idee hat, die Krise in den USA zu lösen, schreibt es bitte nicht in die Kommentare, sondern verliert keine Zeit und ruft direkt die UN an.

Ich hoffe natürlich, dass die Proteste auch von Seiten der Demonstranten gewaltfrei bleiben, in Minneapolis und in anderen Städten. Aber ganz ehrlich, ich glaube, wir müssen ihnen letztendlich unabhängig hiervon beistehen und viel Glück wünschen. Auch wenn dieser Wunsch sehr schwach und etwas zynisch wirken mag, für die Unterschicht der USA mag dieser Protest so etwas wie die letzte Hoffnung sein.

Und wenn er in einem Bürgerkrieg endet. Wahrscheinlich sind wir (je nach Definition) ohnehin schon seit mehreren Jahren an diesem Punkt angelangt.

Vorübergehend (bestimmt für einige Jahre) gebe ich natürlich meine Hoffnung auf Besserung auf, so realistisch müssen wir leider sein.

Aber ich weigere mich, dies endgültig zu tun. Dafür habe ich, vor allem auf Twitter, über die letzten Jahre auch viel zu viele liebenswerte Menschen, wenn auch meistens eher kurz, kennenlernen dürfen. Amanda aus Nashville, Tennessee zum Beispiel. Oder Niko aus Florida. Oder Katie und Dee aus New York City. Oder Joe aus Ohio. Selbst mit Kongresskandidaten wie James aus Kansas oder Lauren aus New York City, die übrigens nach einem Schüleraustausch noch heute Kontakte nach Deutschland hat und auch Deutsch spricht, hatte ich die Gelegenheit, kurz zu schreiben über die letzten Jahre. Alle diese Menschen wünschen sich ebenso nichts weiter als das, was wir, bei aller berechtigten Kritik an unserem System, gewissermaßen für selbstverständlich erachten:

  • Dass kein Mensch aus der Unter- oder Mittelschicht mehr Privatinsolvenz anmelden muss, weil ein Elternteil Krebs oder eine andere schwere Diagnose gestellt bekommt.
  • Dass ihre Regierung nach außen, zumindest pro forma, für Frieden und Diplomatie auf der Welt eintritt.
  • Dass Rassisten in Polizei und Justiz keinen Zutritt erlangen oder zumindest konsequent und mit Härte verfolgt werden.

Zugegeben, ist zwar hier nicht Thema, aber bei diesem letzten Punkt tun wir uns leider auch in Europa und Deutschland erheblich schwer. Ich werde nächste Woche aus beruflichen Gründen hier nicht schreiben, dafür werdet ihr einen sehr schönen Gastbeitrag zum Thema Europa zu lesen bekommen!

Berkeley hat sich inzwischen leider, ebenso aus beruflichen Gründen, erledigt. Aber den Wunsch, eines Tages einen längeren Roadtrip von Texas nach Norden in den mittleren Westen, dann westlich durch die Rocky Mountains nach San Francisco und runter bis in meinen Geburtsort L.A. zu machen, bleibt bestehen. Ich würde dann auch bewusst mit den Menschen sprechen und sie kennenlernen wollen. Nicht (nur) über Politik natürlich. Wie bereits gesagt, die Faszination bleibt bestehen, in positiver wie aktuell leider auch in negativer Hinsicht.

Ein ehemaliger Assistent und ich werden auch weiterhin darüber fantasieren, zusammen auszuwandern. Träumen alleine treibt niemanden in die Insolvenz, selbst nicht im Raubtierkapitalismus.

Zum Abschluss daher auch nicht der kritischste Song, den es gibt. Aber trotzdem einen, den ich diese Woche über nicht aus dem Ohr bekomme:

Dieser Beitrag hat 8 Kommentare

    1. DucciVinci

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