„Stärke“ und „Aktivität“: Die Gefahr der Überbetonung

„Stärke“ und „Aktivität“: Die Gefahr der Überbetonung

Ich glaube, fast jede/-r Blogger/-in aus der Behinderten- bzw. Inklusionscommunity hat inzwischen seinen oder ihren „Liebe Community, wir müssen reden“-Beitrag und mit den allermeisten dieser Texte, die ich gelesen habe, gehe ich selber auch völlig d’accord übrigens. Das hier wird jetzt halt meiner werden. Es werden nicht alle mit ihm d’accord gehen und das ist auch in Ordnung, ich beschreibe hier ja lediglich ein sehr subjektives und selten quantifizierbares Empfinden.

Ich habe diesen Text auch etwas gekürzt und umstrukturiert, weil mir die letzte Version zu verbittert klang und das wirklich von Herzen nicht meine Absicht war!

Natürlich denke ich bei diesem Text im Leben nicht an eine einzelne Person. Der Aufhänger, warum ich ihn schreiben muss, ist eine gesamte Veranstaltung, die ich übrigens insgesamt sehr positiv empfunden habe und in Erinnerung behalten werde, aber einzelne Aspekte sind mir darüber hinaus schon seit vielen Jahren immer mal wieder aufgefallen:

Es geht um das Konzept der Inspiration. Speziell um das, was viele von uns (wenn nicht alle) zu Recht als „inspiration porn“ öffentlich bemängeln. Dieser Begriff wurde definiert und geprägt von der australischen Aktivistin Stella Young, die leider viel zu früh verstorben ist. Stella gehört, seitdem ich ihren Talk im Jahr 2014 gesehen habe, auf die Liste der Persönlichkeiten, die ich wirklich sehr gerne einmal persönlich kennengelernt hätte, Rest In Power.

Ich möchte auch nicht bewirken, dass jemensch seine oder ihre Art komplett verändert, das ist weder möglich noch wünschenswert. Allerdings möchte ich, dass auch aktive Menschen mit Behinderung vielleicht für einen kurzen Moment innehalten und sich überlegen, ob und inwiefern sie eventuell auch selbst die Vorlage für „inspiration porn“ liefern.

Betrifft natürlich bei weitem nicht alle Menschen und auch bei weitem nicht immer, offensichtlicher Disclaimer an dieser Stelle.

Wir sind in keinem Wettbewerb

Ich war vergangene Woche Teilnehmer einer Wochenendveranstaltung, organisiert größtenteils von behinderten Menschen selbst (die genaue Veranstaltung tut hier nichts zur Sache). Samstag, mit kurzen Pausen, 12-Stunden-Programm. Natürlich für alle Teilnehmer/-innen mega anstrengend, aber gleichermaßen auch echt informativ.

Tagsüber sprachen viele Expert/-innen, auch in eigener Sache, über die erfolgreiche Organisation selbstbestimmten Lebens. Natürlich ist das jetzt überspitzt formuliert, aber viele Veranstaltungen liefen so ein bisschen hinaus auf das Motto „Du kannst alles schaffen, wenn du nur hart genug dafür kämpfst“.

Abends sprachen dann viele Menschen mit Behinderung, die wirklich etwas Herausragendes geschafft haben. Sie wandern, sie tauchen, sie finden neue Wege, sich sportlich zu betätigen, ein erfolgreicher Musiker, ein Professor im Rollstuhl, ein Gedächtnisweltmeister. Tolle Menschen, alles wirklich tolle Menschen, wenige von ihnen kenne ich sogar ein bisschen persönlich.

Aber … puh. Ich fühle mich ehrlich gesagt sehr schlecht dabei, diese Zeilen zu schreiben, aber ganz ehrlich: Es gibt in der Summe bei allem ein too much. Trotz aller positiven Eindrücke des Tages hatte ich am Samstagabend spontan das Bedürfnis, die Ansprüche an mich selbst mit folgendem Tweet ganz radikal in den Keller zu schicken:

Ein Tag, der zweifellos Menschen mit Behinderung zu mehr Aktivität und Durchsetzungswillen inspirieren sollte, gipfelte für mich also leider in einem Bedürfnis nach etwas Mondänem wie einem Bier.

Vielleicht besänftigt es Menschen ohne Behinderung, die vergleichbare Veranstaltungen mit einem ähnlich zwiegespaltenen Gefühl verlassen haben, wenn sie hören, dass es einem behinderten Menschen selbst beizeiten genauso geht.

Das ist so ausgedrückt natürlich selbstverständlich, aber wir Menschen mit Behinderung befinden uns nicht nur nicht in einem Streit um, vergleichsweise, Kleinigkeiten, sondern auch nicht in einem Aktivitäten-Wettbewerb gegeneinander.

Warum ist das gefährlich?

Gut, einige von euch werden jetzt bestimmt denken, Tim, du musst ja an unserem Marathon nicht teilnehmen. Und das stimmt wahrscheinlich, ich bin nicht zwangsläufig Zielpublikum aller Veranstaltungen in und um der Behinderten-Community und das ist gut so. Es ist ja schließlich auch lobenswert, wenn beispielsweise junge Familien durch Vorbilder innerhalb der Community inspiriert werden. Lernen durch Vorbilder als Konzept ist schließlich so alt wie die Menschheitsgeschichte.

Dieses Konzept soll auch auf jeden Fall beibehalten werden. Trotzdem gibt es mehrere Aspekte dabei, die mir Sorgen bereiten. Ich hoffe, dass ich mich im Folgenden verständlich genug artikuliere, ist keine Selbstverständlichkeit:

Erstens: Seht her, diese starken Menschen schaffen doch heute schon alles! Dementsprechend könnten politische Entscheidungsträger zynisch behaupten, es bestehe doch gar kein dringlicher Bedarf, am heutigen System etwas zu ändern. Die Bürde, behinderte Menschen in dieser Welt zurechtkommen zu lassen, wird unterbewusst von der Gesellschaft auf das Individuum verlegt. Im Ergebnis stehen dann halbgare Regelungen wie das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, denn „es läuft ja alles schon irgendwie“.

Ich habe mal vor einiger Zeit geträumt, Jens Spahn würde sich einer solchen Veranstaltung zuschalten und uns für unsere tolle Leistung applaudieren. Dann bin ich zum Glück aufgewacht.

Zweitens: In der Realität ist Inspiration leider oft mit einer Erwartungshaltung verknüpft. Als ich noch jung war (Gott diese Formulierung^^) habe ich mich öfters unfreiwillig als Vorbild für andere wiedergefunden, was mir im Nachhinein ehrlich gesagt dezent unangenehm ist.

Guck mal, der Tim ist stärker behindert als du und der studiert… und guck mal, der und der ist sogar Professor und die hat sogar ihren eigenen Verlag usw.

Newsflash für Eltern, Lehrer und sonstige Bezugspersonen von Menschen mit Behinderung: Keine 2 Menschen sind gleich. 🙂

Wenn erfolgreiche Menschen mit Behinderung geballt sprechen, erzeugt das leider erfahrungsgemäß auf speziell junge Menschen mit Behinderung mehr Druck als wenn erfolgreiche Menschen ohne Behinderung zu einem gemischten Publikum sprechen. Eigentlich traurig, ist aber leider so. Niemand würde auf die Idee kommen, einem Kind, das gern Fußball spielt, geballt die Statistiken von Cristiano Ronaldo vorzusetzen. Irgendwie scheint genau das allerdings bei Menschen und Vorbildern mit Behinderung etwas weniger verpönt zu sein.

Auch 2 der wahrscheinlich 3 meistgenutzten Adjektive innerhalb zumindest mancher Veranstaltungen der Behinderten-Community, nämlich „stark“ und „aktiv“, stellen eine Erwartungshaltung dar und sind außerdem ziemlich subjektiv. Ich selbst beschreibe andere Menschen auch gerne als stark oder aktiv, weniger gern eine Gruppe, die mich selbst einschließt. Man kann diese Wörter definitiv benutzen und ja, auch Menschen ohne Muskeln können stark sein. Aber wie bei so vielem im Leben: Die Dosis macht’s.

Letzte Woche hieß es übrigens wörtlich, wir muskelkranke Menschen hätten alle so viel Power, dass es so wirke, als würden wir alle einen 27-Stunden-Tag machen. Ist ja auch so gaaaar keine Erwartungshaltung.

Ähnliche Erfahrungen übrigens, als ich einmal mitteilte, wegen Morgenpflege und Frühstück die 9:00 Uhr-Veranstaltung auszulassen. „Reiß Dich zusammen, wir powern da durch.“ Ähnliche, nicht ganz so krasse Erfahrungen kenne ich übrigens von Menschen mit Fatigue-Syndrom tatsächlich. Ganz ehrlich, wenn es mich für manche Menschen (zum Glück nur eine Minderheit wahrscheinlich) zu einem schlechten Aktivisten macht, wenn ich nicht bereit bin, komplett meinen Körper aufzuopfern, so be it.

Drittens: Wie gesagt, „stark“ und „aktiv“ sind immer nur 2 der 3 meistgenutzten Adjektive. Das Letzte ist eines, hinter dem ich voll und ganz stehe: „selbstbestimmt“.

Häufig tauchen jedoch diese zusammen auf und ganz ehrlich, das sehe ich problematisch. „Stark“ und „aktiv“ sind nämlich wertende Begriffe, während Selbstbestimmtheit ein absolutes Grundrecht ist. Völlig unabhängig davon, als wie stark oder aktiv wir die Person wahrnehmen.

Niemand, der keine Straftat begangen hat, muss sich ein selbstbestimmtes Leben erst „verdienen“. Natürlich sehen das ausnahmslos alle Aktivist/-innen so, trotzdem werde ich eigentlich nicht müde, diesen Punkt herauszustellen.

Ich selbst wurde inklusiv beschult und das im Allgemeinen mit sehr guten Erfahrungen. Allerdings fielen sowohl in der Schule als auch zunächst an der Uni bei mir die letzten Bedenken erst, als Lehrer und Professoren feststellten, dass ich leistungsmäßig im oberen Segment angesiedelt war. Das darf natürlich niemals Voraussetzung sein, ein System, in dem du Einserschüler sein musst, um vorbehaltlose Inklusion zu erfahren, ist kein bisschen inklusiv.

Das Gleiche gilt übrigens für ein System, in dem Kostenträger schneller einknicken, wenn du eine mindestens 4-stellige Anzahl Likes auf Twitter für dein Anliegen bekommst. Ich muss die Absurdität dessen nicht herausstellen glaube ich.

Zum Leben und speziell zum selbstbestimmten Leben gehören natürlich gewisse Verantwortlichkeiten. Genug Essen und Trinken, meine Mitarbeiter in jeglicher Hinsicht fair behandeln und vielleicht auch meine Steuererklärung machen. Langwierige Gerichtsprozesse gegen Krankenkasse und/oder Sozialamt sind jedoch nicht etwas, das ich in einem funktionierenden Staat als „Verantwortlichkeit, die einfach zu einem selbstbestimmten Leben dazugehört“ deklariert wissen möchte. Es ist auch kein Zeichen von Schwäche, das nicht durchstehen zu wollen oder zu können. Darum bleiben ich und andere auch mit voller Kapelle gegen Gesetze wie IPReG.

Dafür nehme ich mir regelmäßig Zeit

Ich habe irgendwie eine Tendenz, den Impuls von Anna Koschinskis Blognacht automatisch zur Überschrift für meinen letzten Absatz zu machen. Keine Ahnung, ob es sich hierbei um ein bekanntes Stilmittel handelt. 🙂

Ich persönlich empfinde ehrlich gesagt Erleichterung, in den letzten Jahren durch andere „Vorbilder“ innerhalb der Community abgelöst worden zu sein. Was die grundsätzliche Problematik natürlich nicht verändert. Aber ich habe schon vor über 10 Jahren in einem alten Forum festgestellt: „Bewunderer“ sind keine Freunde. Gut, die Pandemie hat auch die letzten Sozialkontakte vor Ort auf Eis gelegt leider. Dafür erlebe ich in dieser Zeit vor allem auf Twitter ziemlich die Freiheit, einfach nur ich selbst sein zu können. Und ich habe auf diesem Weg mehrere Menschen sehr, sehr lieb gewonnen. Auch wenn leider der eigentliche Grund meiner Anmeldung dort vor 1,5 Jahren, nämlich die Bundespolitik, immer noch quasi genauso viel Anlass zur Frustration liefert wie damals.

Seriously, Bundeskanzler Armin Laschet, ihr habt sie doch echt nicht mehr alle.

Manchmal brauche ich jedoch, wie letzten Samstag, einfach nur ein Bier. Oder auch was anderes. Verzeiht mir also, wenn ich gelegentlich ein Brettspiel, eine Runde Karten oder auch mal einen gemeinsamen Film einem weiteren Aktivistentermin vorziehe.

Dafür nehme ich mir einfach die Zeit, wie auch gelegentlich für die Mathematik. Für eine weitere Karriere an der Uni hat es nicht gereicht und wird es nicht reichen, aber ganz aufgeben kann ich dieses Fach auch nicht. Zumal ich, Verzeihung dafür, unter Geisteswissenschaftlern auch immer wieder merke, doch andere Denkstrukturen zu besitzen.

Was ich mir stattdessen in der Behinderten-Community wünsche fragt ihr euch vielleicht? So viel Veränderung ist es eigentlich gar nicht. Mehr Lockerheit, etwas weniger Fokus auf Aktivität, etwas konkretere Forderungen („weniger Barrieren in den Köpfen“ oder „mehr Rechte für Menschen mit Behinderung“ bedeutet für mich konkret beides nicht so viel) und etwas Verständnis gegenüber Menschen, die sich ihre Schwäche selbst offen eingestehen. Persönliche Assistenz im Arbeitgebermodell ist möglich, aber der rechtliche Teil ist für viele Menschen, speziell wenn beispielsweise Behandlungspflege und bald das IPReG dazu kommt, doch kein Zuckerschlecken.

Ich für meinen Teil gebe meinen Eltern heute Abend Inspiration, in dem ich sie im Bridge abziehe. Ist auch nicht so schwer. 🙂

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