Zum Ausrastern.

Zum Ausrastern.

Das wird heute mit Sicherheit der kürzeste Text, den ich bislang in diesem Blog geschrieben habe. Dass ich ihn eigentlich gar nicht schreiben sollte, hat vor allem zwei Gründe: Erstens bin ich weder Arzt noch Therapeut. Zweitens ist der kurzfristig vom Bundesministerium für Gesundheit eingebrachte Änderungsantrag 49 zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG), landläufig auch „Pflegereform“ genannt, nicht öffentlich einsichtbar.

Demnach soll der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bis Ende 2022 Regelungen festlegen, wie Psychotherapie künftig „effizienter“ gestaltet werden kann.

Ganz ehrlich, wenn die Kombination aus kurzfristig eingebrachtem Änderungsantrag, Bundesgesundheitsminister Spahn, nicht öffentlich einsichtbar und dem G-BA bei euch nicht alle Alarmglocken schrillen lässt, würde ich euch gerne etwas Lektüre zum Nacharbeiten bereitstellen. Meldet euch dann bei Gelegenheit mal bei mir!

Leider beruht dieser Text also vorerst auf Sekundärquellen wie dieser von Prof. Christine Kirchhoff. Ich war, wie ich unten darlegen werde, für ziemlich viele Jahre in psychotherapeutischer und teils psychiatrischer Behandlung. Dort, wo ich zuletzt zu regulären Therapiesitzungen in Behandlung war, gab es einen Wasserspender, an dem sich alle kostenlos bedienen konnten. Mein Rat hier an das Bundesgesundheitsministerium:

Kommt vorbei und gönnt euch auch mal ein Glas Wasser. Zu viel Lack tut euch offensichtlich nicht gut.

Sie müssen in Raster 5C passen

Der erwähnte Änderungsantrag soll bewirken, dass Diagnosen in der Psychotherapie standardisiert werden. Die Dauer einer Behandlung soll schon direkt zu Beginn nach einem vorgegebenen Schema festgesetzt werden. „Schweregradgerecht und bedarfsorientiert“ schimpft sich der Änderungsantrag nach einer Stellungnahme der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung.

Das wahre Ziel des Gesetzgebers dürfte nicht besonders schleierhaft sein: Kostenminimierung. Insbesondere sollen lange Diagnosestellungen bei komplexen psychischen Problemen in Zukunft minimiert bis unmöglich gemacht werden.

Ja, der Bedarf an Psychotherapeut/-innen ist groß und kann insbesondere in der Fläche derzeit leider nicht ansatzweise gedeckt werden. Ziel einer langfristigen Gesetzgebung wie dieser könnte aber stattdessen auch sein, die Wertschätzung des Berufs zu steigern. In der Pflege scheinen die großen Parteien nach und nach mehr schlecht als recht langsam zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

Zur Steigerung der Wertschätzung gehört aber auch, dem Therapeuten oder der Therapeutin zu vertrauen und auch Verantwortung zu übergeben. Selbst wenn die Bezahlung stimmt werden nur wenige Menschen, die sich intensiv mit der Gesellschaft sowie der menschlichen Psyche beschäftigt haben, dafür zu begeistern sein, im Wesentlichen Fließbandarbeit zu leisten.

Abgesehen davon, dass Therapeut/-innen verpflichtet sind, sofort auf die Rasterdiagnose hinzuarbeiten, was auch Patienten sofort von der ersten Sitzung an unter Druck setzt. Was macht es wohl mit einem akut schwer depressiven Menschen, wenn der Gesetzgeber in ihm nur einen Kostenfaktor sieht? Tatsächlich müssen viele Patienten in den ersten Sitzungen erst mal stabilisiert werden und erst nachdem das Fundament da ist kann mit Diagnose und folglich mit der eigentlichen Therapie begonnen werden.

Ja, mir ist natürlich bewusst, dass es vorgegebene Sitzungszahlen auch heute schon gibt. Ich habe schon mehrere Therapien mit vorgegebener Länge absolviert. Allerdings war hier inhaltlich nie wichtig, ob ich in ein bestimmtes Schema passe und außerdem habe ich die Diagnosestellung insofern erleichtert, dass ich meistens mich direkt mit „ich bin depressiv und muss darüber reden“ vorgestellt habe. Macht es natürlich vergleichsweise einfach. Ich kenne auch in meinem persönlichen Umfeld mehrere Menschen mit leider viel komplexeren Problemen, die sich einer Rasterdiagnose durch eine zunächst fremde Person nicht unterziehen würden oder könnten.

Reflektiert werden hilft

Ich habe mich auf dieser Seite schon mit meiner Depression auseinandergesetzt. Meine erste Psychotherapie diesbezüglich absolvierte ich 2012/13, die zweite 2015/16, seither regelmäßig in psychiatrischer Betreuung. Eigentlich hätte die Betreuung psychotherapeutisch sein sollen, die angewiesene Praxis war jedoch leider nicht ganz barrierefrei, Aufzug zu kurz. Den Praxen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, barrierefreie Umrüstung unkompliziert zu beantragen (wir sind in Deutschland, ich weiß …), wäre doch mal eine sinnvolle Regelung für das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz gewesen. Damit meine ich im Jahr 2021 oder besser noch früher, nicht 2035.

Jede Therapie ist individuell. Ein typischer Weg für die Behandlung einer Depression mag beispielsweise sein, therapiebegleitend körperlichen Sport zu machen. Kenne wirklich viele Menschen, denen das geholfen hat. Ist aber in meinem Fall offensichtlicherweise hinfällig. So habe aber nicht nur ich, sondern wirklich jeder Patient seine eigenen individuellen Lebensumstände, auf die der Therapeut oder die Therapeutin eingehen muss. Das macht den Beruf auch für viele gerade spannend und kreativ.

Therapie nach Raster wäre das exakte Gegenteil und für viele Menschen nicht hilfreich.

Ich rede viel, in meinen Therapiesitzungen locker 85 % der Zeit. Das tut aber auch nicht jeder Patient mit einer Depression. Andere Patienten werden dafür weniger Schwierigkeiten haben als ich, Ratschläge und Erkenntnisse aus der Therapie auch konkret umzusetzen. Ich weiß immer in der Theorie ziemlich genau, was ich tun sollte, aber das dann ganz konkret einer bestimmten Person X zum konkreten Zeitpunkt Y zu sagen oder etwas an einem bestimmten Tag Z einfach nur zu tun, ich bekomme es oft einfach nicht hin.

Häufig bekomme ich die Frage gestellt, was eine Therapie mir geben würde, was beispielsweise eine gute Freundin oder ein Familienmitglied mir nicht geben kann. Es geht hierbei gar nicht mal so sehr um inhaltliche Tabus, die ich mit Freunden nicht besprechen möchte oder könnte.

Es ist schlicht und ergreifend das Setting, welches ich gelegentlich brauche. Keine Angst haben zu müssen, das Gegenüber könnte irgendein sensibles Thema falsch auffassen und mich zu einem ungewissen Zeitpunkt noch mal drauf ansprechen, weil ich mit der Person im Alltag ständig in Kontakt stehe. Keine Angst haben zu müssen, eine Person versehentlich zu verletzen, weil ich mit dem Therapeuten oder der Therapeutin außerhalb der Sitzungen in keinerlei persönlichem Verhältnis stehe. Ich kann guten Gewissens alles in der Sitzung Gesagte verdrängen, meine alltäglichen Beziehungen und Pflichten ausleben und die schwierigen Themen erst in 14 Tagen zu einem festen Zeitpunkt wieder aus dem Unterbewusstsein hervorrufen, das geht in alltäglichen Beziehungen oder Freundschaften einfach nicht.

Ich bin als halber Niederländer und halber US-Amerikaner die formelle Ansprache nicht von Haus aus gewohnt und spreche auch alle Kollegen und Vorgesetzten mit „Du“ an, aber Therapie ist eine der ganz seltenen Situationen im Leben, in der ich das „Sie“ tatsächlich ein bisschen zu schätzen weiß. Eben genau weil es für mich signalisiert, dass ich mich um die persönliche Beziehung keine Sorgen machen muss. Ich spreche mit einer Person, die in vielen Aspekten des Lebens mehr Ahnung hat als ich und deren Job es ist, diese Ahnung zu benutzen, um mir in genau diesen Aspekten, in denen ich mich schwertue, weiterzuhelfen.

Gut, die letzten Absätze waren zwar speziell auf mich bezogen, aber ich denke, viele andere Menschen können sich mehr oder weniger in meinen Gedanken wiederfinden. Einige bestimmt auch nicht. Viele, wie auch beispielsweise ich in der Pubertät, müssen tatsächlich erst regelrecht gezwungen werden, überhaupt etwas zu sagen. Außer „verpiss‘ dich“ wäre da von dem 14-jährigen Ich nicht besonders viel Input gekommen.

Ich selbst verfüge über kein psychologisches Talent, aber gerade in den unterschiedlichen Charakteren der Menschen liegt für viele der Reiz am Beruf des Psychotherapeuten oder der Psychotherapeutin.

Und auch wenn ich mein eigenes Einfühlungsvermögen nicht immer sehr hoch einschätze, höher als das des Bundesgesundheitsministers ist es, bei allem (spärlich vorhandenen) Respekt.

Zum Abschluss möchte ich treffend noch einmal Prof. Christine Kirchhoff zitieren:

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