Ein Plädoyer für die „Wohlfühlbeatmung“

Ein Plädoyer für die „Wohlfühlbeatmung“

Tim Melkert wurde mit Spinaler Muskelatrophie Typ 1 geboren. Sein Beatmungsgerät ist für ihn ein Hilfsmittel. Und das nutzt er – wie all die anderen, die ihn in seinem Alltag begleiten – voll aus.

Eines meiner frühen Idole war Günther Jauch mit seiner Sendung ‚Wer wird Millionär’. Ja, ich war im Alter von 13 Jahren durchaus wissbegierig, aber noch viel mehr wollte ich eines Tages selbst die Sendung moderieren und genoss es, andere Menschen mit schwierigen Fragen zu foltern. In die, relativ kurze, Zeit meiner Faszination für die Show fiel das SMA-Symposium 2002 und, da ein 13-jähriger Junge per Definition das Kinderprogramm doof zu finden hat, habe ich an diesem Symposium mein eigenes Programm durchgezogen und am bunten Abend knapp 90 Minuten lang (ich entschuldige mich noch mal bei den Organisatoren für die Überlänge!) meine Version von ‚Wer wird Millionär’ moderiert.

Einer meiner vorausgewählten Kandidaten an diesem Abend war ein renommierter Beatmungsfacharzt, den ich sehr schätze und noch heute regelmäßig konsultiere. Was mir jedoch entgangen war: Am gleichen Vormittag hatte er in einem Vortrag vor erwachsenen SMA-Patienten sowie Eltern von SMA-Kindern vor den Schwierigkeiten des Sprechens mit Trachealkanüle und insbesondere der Beatmung über selbige gewarnt. Ich wurde während meiner Moderation der Quizshow an diesem Abend durchgehend über Trachealkanüle beatmet.

Das Krankenhaus als Teil der Kindheit

Ich habe Spinale Muskelatrophie Typ 1 und leider habe ich einen signifikanten Teil meiner frühen Kindheit in Kliniken verbracht. Lebensgefährlich waren insbesondere die Lungenentzündungen, alleine im Jahr 1993, im Alter von vier Jahren, musste ich im Kinderkrankenhaus fünfmal intubiert werden. So lange, bis im November desselben Jahres die Notbremse gezogen und mir ein Luftröhrenschnitt gelegt werden musste.

Ziel war damals das ungeblockte Sprechen mit einer speziellen Sprechkanüle, die bei der Ausatmung mechanisch verschließt, damit die Luft nicht über die Trachealkanüle wieder entweicht (was ich als sehr unangenehm in Erinnerung habe!). Schon sehr bald habe ich jedoch das gemacht, was die meisten (ungeblockt) invasiv dauerbeatmeten Menschen, damals wie heute, sich früher oder später selbst beibringen: Sprechen während der Inspirationsphase. Hier verhindert das Beatmungsgerät selbst das Entweichen von Luft über die Trachealkanüle, indem es neue Luft nachschiebt. Wahrscheinlich war es der Moment etwa einen Monat nach dem Luftröhrenschnitt, in dem ich lernte, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, an dem ich auch aufgehört habe, das Beatmungsgerät als meinen Gegner zu sehen, sondern als Hilfsmittel, von dem ich ab diesem Punkt eigentlich gar nicht mehr weg wollte.

Denn machen wir uns nichts vor: Beatmung kann gerade anfangs Komplikationen hervorrufen, aber das grundsätzliche Gefühl, genügend Luft zu bekommen, ist unglaublich befreiend. Viele Jahre lang war es nicht in einem medizinisch bedenklichen Ausmaß, aber ich wollte eigentlich schon immer etwas mehr Druck oder Volumen haben, als die Blutwerte hergaben. Vor allem, um die Atem- und Sprechmuskulatur nahezu komplett zu entlasten. Ja, auch bei Spinaler Muskelatrophie macht es Sinn, wenn die sehr spärlich vorhandenen Muskeln gelegentlich trainiert werden, aber in der Gesamtbilanz ist der Energieverbrauch schon eher zu hoch als zu niedrig, wodurch ich persönlich kein Problem damit habe, Hilfsmittel wie das Beatmungsgerät auch in vollem Ausmaß zu benutzen.

Absolut pro individuelle Anpassungen

Es gab keinen Moment, an dem ich mich bewusst entschieden habe, mich aus medizinischer Sicht überbeatmen zu lassen und das würde ich auch niemals anderen Menschen empfehlen, ich kann sowieso nur über mich selbst berichten und werde keine Empfehlungen aussprechen für Menschen, deren Atemwege ich zudem gar nicht kenne. Ich plädiere lediglich für einen großzügigen Umgang mit individuellen Wünschen und Anpassungen. Ich halte es in meinem Fall, und bestimmt findet sich der eine oder andere Leser darin wieder, für legitim, vor einem anstrengenden Referat oder einer Vorlesung den inspiratorischen Druck um 2 mbar hoch zu setzen (bei Erkältung, zusammen mit dem PEEP, sowieso). Damit bleibt der Vortrag selbst zwar weiterhin anstrengend, aber diese Anstrengung führt nicht merklich zu CO2- Anstieg und/oder mehr Sekret.

Ich diktiere diesen Text aktuell mithilfe einer Spracherkennungssoftware – und mit etwa 9 Atemzügen pro Minute (APCV, Frequenz variabel) von 30 mbar Druck und einer für manche Mediziner schwindelerregenden Inspirationszeit von 4 Sekunden. Diese Werte sind sicherlich das Ergebnis von 28 Jahren Dauerbeatmung sowie inspiratorischen Sprechens, don’t try this at home. Nachts sind meine Werte natürlich etwas niedriger, denn zum Glück brauche ich persönlich kein Schlaflabor, um festzustellen, wann ich nachts zu viel Luft bekomme. Ich kann dann nämlich einfach nicht einschlafen. Vielleicht ist mein ausgeprägtes Nachteulentum unter anderem auch eine indirekte Folge der Überbeatmung. Wenn das mit eine Ursache dafür sein sollte, bin ich bereit, diesen Preis zu zahlen.

Wahrscheinlich habe ich mich mit der Zeit überbeatmen lassen, um flüssiger und mit mehr Ausdauer zu sprechen, unter anderem auch um Texte wie diesen zu diktieren. Ich habe dieses Jahr auch gemerkt, dass ich schon leichter mit lauterer Stimme sprechen kann als viele Menschen mit spinaler Muskelatrophie, die körperlich noch deutlich mehr Fähigkeiten haben als ich. Was keine Leistung meinerseits ist, ich betreibe schließlich Doping mit dem Hilfsmittel Beatmungsgerät.

Baden im Mittelmeer? Alles ist möglich!

Keine unnötige Energie verbrennen

Jedoch merke ich auch andere Vorteile an meiner Beatmungsform. So hatte ich meine letzte ernstzunehmende Pneumonie im Februar 2006 und ein Grund dafür ist sicherlich, dass höhere Drücke Atelektasen schwer entstehen lassen und wenn sie entstehen, kann ich sie sofort lokalisieren. Nicht nachmachen, aber ich gebe auch zu, dass ich meinen Cough Assist kaum als regelmäßiges Therapiegerät einsetze, sondern um wenig subtil Atelektasen „freizubrechen“. Im Oktober habe ich an einem Tag achtmal von dieser Möglichkeit Gebrauch machen müssen, ansonsten in diesem Jahr zum Glück noch gar nicht. Die Gefahr, die nach wie vor von Atelektasen und Pneumonien für mich ausgeht, ist jedoch zu groß und überwiegt die Risiken eines starken Cough Assist-Einsatzes. Mein Lungenvolumen hat sich zum Glück seit den Horrortagen meiner Kindheit relativ erfreulich entwickelt, was sicherlich auch dem Hilfsmittel Beatmungsgerät zu verdanken ist. Außerdem hatte ich jahrelang für Spinale Muskelatrophie Typ 1 vergleichsweise wenig Untergewicht, weil ich faul bin und wenig Lust hatte, unnötig Energie für die Atmung zu verbrennen.

Natürlich herrscht immer noch Optimierungsbedarf, so habe ich seit einiger Zeit Schwierigkeiten mit extrem hohem, trockenem Sekret, der zu oft nur noch durch Trachealkanülenwechsel zu beseitigen ist. Ich lasse schon regelmäßig Inhalationen in meine Beatmung zwischenschalten, werde mich zumindest für nachts aber nach der Pandemie trotzdem neu um eine Befeuchtung der Atemluft bemühen.

Seit Mai 2021 engagiere ich mich im GKV-IPReG-ThinkTank, auch weil ich die Priorisierung des Dekanülierungspotenzials sowie die regelmäßigen Erhebungen als Verordnungsvoraussetzung für außerklinische Intensivpflege, die auch meine persönliche Assistenz umfassen würde, sehr kritisch sehe. Mit sehr viel Aufwand und Reduzierung der Parameter wäre zumindest vor ein paar Jahren vielleicht eine Umstellung auf eine stundenweise nicht-invasive Beatmungsform noch gerade so möglich gewesen, aber ich persönlich sehe ehrlich gesagt keinen Nutzen darin. Ich halte Vorträge, war mit dem Beatmungsgerät im Mittelmeer schwimmen und kann eigentlich fast alles machen, was durch meine Behinderung grundsätzlich möglich ist. Wir gelangen zum Glück zwar zu langsam, aber gesellschaftlich doch an einen Punkt, an dem wir Menschen im Rollstuhl nicht mehr darauf hintrainieren, sich mit sehr viel Anstrengung eine Treppe hochzuschleppen, sondern wir fordern stattdessen zurecht mehr Barrierefreiheit. Das Gleiche wünsche ich mir auch mit Blick auf das Hilfsmittel Beatmungsgerät für die Menschen, die von ihm profitieren.

Dieser Artikel wurde verfasst in der Nacht auf den 14. Dezember 2021 und veröffentlicht in der beatmet leben-Zeitschrift Ausgabe 2/2022.

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