Intensivpflege“stärkungs“gesetz: Sitzengeblieben.

Intensivpflege“stärkungs“gesetz: Sitzengeblieben.

An der Uni, an der ich arbeite, bekommen heute viele Erstsemester ihre Klausurergebnisse mitgeteilt.

Bundesweit bekommen außerdem in diesen Wochen Millionen von Schülern ihre Abschlusszeugnisse. Zum Abschluss eines Schuljahres, das in dieser Form definitiv nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn wird nicht müde, seine Verbundenheit zu der Stadt und der Region, in der ich lebe, zur Schau zu stellen. An unserer Uni hat er niemals studiert oder gelehrt, trotzdem hat er über die letzten Jahre und speziell seit dem 14. August 2019 (entspricht grob dem Beginn des soeben zu Ende gegangenen Schuljahres in Nordrhein-Westfalen) genug Bewertungsgrundlage geschaffen, auf deren Basis ich mir zutraue, auch Herrn Spahn hiermit ein Jahresabschlusszeugnis auszustellen:

SITZENGEBLIEBEN.

Nein, ernsthaft Herr Spahn, setzen Sie sich. Zum Beispiel in einen Rollstuhl. Und bleiben Sie für eine beträchtliche Weile darin sitzen. Sie werden mir heute noch nicht glauben, aber nach einer gewissen Zeit würden Sie viele Dinge aus einer anderen Perspektive wahrnehmen.

Vor allem würden Sie Ihre eigenen Gesetzesvorhaben, von denen das Gesetz zur Stärkung intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation (GKV-IPReG, im Folgenden kurz als IPReG bezeichnet) am 2. Juli 2020 vom Deutschen Bundestag in einer abgeänderten und zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht final veröffentlichten Fassung verabschiedet wurde, anders bewerten.

Was ändert sich?

Im Idealfall für mich persönlich nix. Garantiert die aktuelle Fassung des IPReG, dass sich gegen den expliziten Wunsch des Versicherten nix ändert? Leider mitnichten. Diese unmissverständliche Klarstellung war in einer Liste von Forderungen enthalten, die ich unter anderem zum Abschluss dieses Beitrags an das Gesundheitsministerium gestellt habe.

Um ehrlich zu sein, die Frage, was das durch den Bundestag verabschiedete Gesetz für mich persönlich bedeuten würde, ist vielleicht die Häufigste, die mir seit dem besagten 14. August 2019 (der Tag, an dem der erste Referentenentwurf zum RISG publik wurde) gestellt wurde. Vielleicht an zweiter Stelle nach der morgendlichen/mittäglichen Frage, wie ich heute geschlafen habe.

Natürlich verständlicherweise, die Frage ist naheliegend. Liebe Journalisten, ihr müsst auch nicht extra vor dieser Frage zurückschrecken, nur weil ich sie hier erwähnt habe. Aber ich tue mich schwer, sie zu beantworten, weil eine seriöse Antwort im Grunde einer Prophezeiung gleichkommt. Ist es möglich, dass sich für viele von uns tatsächlich nichts ändert? Sicherlich.

Aber wenn sie wollen, können Krankenkasse und MDK zukünftig leider unser Alltagsleben mächtig verkomplizieren. Ich habe aktuell persönliche Assistenten, die bei einem eingetragenen Verein in Münster angestellt sind, der aus der frühen Behindertenbewegung hervorgegangen ist und der natürlich als Pflegedienst fungiert, mir aber im Alltag wirklich alle nur zu erhoffenden Freiheiten lässt.

Für meine Assistenten ist die Situation auch einfach, denn sie begleiten mein Leben. „Was will Tim jetzt in diesem Moment von mir und inwiefern bin ich imstande, das jetzt zu leisten?“ ist im Prinzip die einzige Frage, die sie sich in ihrem Arbeitsalltag stellen müssen.

Und ich nehme jetzt einfach mal stur und etwas überheblich an, dass es sich mit mir als Alltagskomplize durchaus aushalten lässt – die Hälfte meines aktuellen Assistententeams hält es nämlich schon seit mindestens 8 Jahren mit mir aus.

Unter dem IPReG müssten sie sich jedoch immer häufiger auch die Frage stellen „Was möchte der MDK?“. Stichwort Pflegedokumentation, die ich aktuell noch schriftlich abgelehnt habe. Selbst in ziemlich sensible Fragen wie die, auf welche Art ich abgesaugt werden und mit welchen Einstellungen ich in welcher Situation beatmet werden möchte, könnten sich zukünftig Krankenkasse und MDK unter dem Deckmantel der Qualitätskontrolle einmischen.

Dies schafft leider ein permanentes Gefühl von Unfreiheit. Da ich auf die Schnelle keine Quelle angeben kann, sollte ich dieses Beispiel vermutlich gar nicht erst erwähnen, ich bin jetzt mal so wissenschaftlich unsauber und tue es trotzdem: Es gibt oder gab mal eine Richtlinie, nach der Menschen mit Dauerbeatmung grundsätzlich keinen Alkohol trinken sollten. Könnten meine Assistenten zukünftig Probleme mit dem MDK bekommen, wenn ich in ihrer Schicht ein Feierabendbier trinke?

Nehmen lassen werde ich mir das nämlich garantiert nicht. Im Gegenteil, das IPReG selbst sorgt dafür, dass ich häufiger eines brauche. In der Hinsicht kann das Gesetz als eine gute Konjunkturmaßnahme für die Brauereien dieses Landes deklariert werden!

Was ist passiert und was steht drin?

Eine vollständige Aufzeichnung der abschließenden Debatte sowie Abstimmung im Deutschen Bundestag findet sich hier, vielen Dank an ALS-mobil für die Bereitstellung.

Der, in fast buchstäblich letzter Sekunde eingegangene, Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Bundestag findet sich ebenso bei ALS-mobil. Eine Beschlussfassung wurde aktuell, wie erwähnt, noch nicht veröffentlicht, sie dürfte allerdings eine selbsterklärende Kombination aus dem oben verlinkten Gesetzestext und dem hier verlinkten Änderungsantrag sein.

Manche Leser erhoffen sich wahrscheinlich, dass ich hier den Änderungsantrag schriftlich analysiere – diesen Wunsch verstehe ich, aber darf es stattdessen auch mündlich sein? Montag vor einer Woche habe ich nämlich in einem Podcast meiner Freunde von stream-politik über das IPReG gesprochen.

Und zwar ausführlich, fühlt euch also ermutigt, das Gespräch zum Beispiel mit höherer Geschwindigkeit abzuspielen. Meine klarste Stellungnahme zum Gesetz findet sich in der Viertelstunde ab 25:14.

Schriftliche Reaktionen auf das Gesetz gibt es aber selbstverständlich auch, eine sehr treffende Analyse findet sich in diesem sowie in diesem Beitrag meiner Bloggerkollegin Laura Mench. Nachdrückliche Leseempfehlung meinerseits!

Ergänzen möchte ich in diesem Abschnitt lediglich noch eine meiner größten Sorgen unter dem IPReG, die ich leider auch in erwähntem Podcast nicht detailliert erklären konnte: Die Einschränkung der Krankenkassenleistung von „Behandlungspflege“ auf „medizinische Behandlungspflege“. Ich habe Mathematik und somit bei weitem nicht Medizinrecht studiert, als Information hierzu verlinke ich somit lediglich die Stellungnahme des Juristen und Sachverständigen Sebastian Lemme.

Ein unsozialdemokratisches Gesetz

Ein weiteres Lob (hätte ich mir einst ehrlich gesagt schwer vorstellen können, inzwischen ist es beinahe alltäglich) muss ich abermals an Nicole Westig, pflegepolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, aussprechen. Ihre Rede, im oben verlinkten Video ab 18:39, war rhetorisch meines Erachtens die beste der gesamten Debatte.

Mit dieser Meinung mache ich mich vielleicht nicht besonders beliebt, aber ganz ehrlich, rhetorisch und präsentationstechnisch finde ich, dass alle Oppositionsparteien ihre Argumente weiter hätten verschärfen können. Wahrscheinlich hat die Bundesregierung ihnen zumindest teilweise absichtlich wenig Zeit hierfür gelassen. Das „Heimzwang“-Argument ist leider nicht falsch, hätte aber präzisiert werden müssen, beispielsweise durch die Argumentation von Herrn Lemme zur medizinischen Behandlungspflege.

Der von Frau Westig zitierte Änderungsantrag der Opposition findet sich unter anderem auf der Homepage meiner Bundestagsabgeordneten Maria Klein-Schmeink (Grüne).

Um es klarzustellen: Selbst mit diesem Änderungsantrag hätte ich das IPReG abgelehnt. Die Gesetzgebung zu Pandemiezeiten war völlig übereilt und selbstverständlich wollen wir alle Missbrauch bekämpfen, dies wird jedoch durch das IPReG nicht bewerkstelligt und Missbrauch (der leider tatsächlich existiert, machen wir uns auf keinen Fall etwas vor!) ist auch heute bereits strafbar. Beim IPReG hingegen geht es darum, Kosten zu sparen – leider ist der Bundesregierung hierbei relativ gleich, ob dies wirklich durch das Aufdecken von Missbrauch geschieht oder dadurch, dass mündigen, erwachsenen Menschen eine Lebensgrundlage verkompliziert oder sogar entzogen werden soll, die für sie bisher funktionierte, selbst wenn sie in einzelnen Aspekten vielleicht nicht der empfohlenen Lehrmeinung entsprach.

Aber der Änderungsantrag der Opposition hätte glasklare Verbesserungen für unsere Selbstbestimmung bedeutet, während die Änderung durch die Koalition dies meines Erachtens nur zu etwa 60 % erfüllte.

Er wurde jedoch durch die Koalitionsparteien abgelehnt.

Ich gebe zu, vielleicht habe ich am Abend der Verabschiedung etwas überreagiert, als ich auf Twitter bezichtigt habe, eine Wahl der SPD ab sofort für mich lebenslang auszuschließen.

Ich meine aber durchaus ernst, dass ich ziemlich sauer auf die Partei bin. Noch am Tag der Verhandlung wurde sie von der CDU/CSU-Fraktion öffentlich verhöhnt, als diese die Grundrente dem dummen Wahlvieh als ihre eigene Errungenschaft verkaufen wollte. Die Reaktion der SPD könnt ihr in der verlinkten Aufzeichnung der Debatte selber nachverfolgen:

Lobeshymnen und Danksagungen an die CDU/CSU und speziell an Herrn Spahn. Und Verhöhnung von nicht nur der Opposition, sondern von Aktivisten wie Laura, Raul und so viele andere.

Ich glaub‘ echt, es hackt gerade bei euch. So zwischen Sigmar Gabriel, Verweigerung eines Bonus für die Krankenpflege, Kohlesubventionierung bis 2038 und Forderung nach Wiedereinführung der Wehrpflicht passte eure Performance in dieser Debatte (zusammen mit eurer Stimme für das IPReG, aber gegen die Sicherstellung der Selbstbestimmung durch den Änderungsantrag der Opposition) aber zugegebenermaßen gar nicht schlecht.

Die im Titelbild gezeigte Protestaktion fand am 30. Juni auch live vor dem Brandenburger Tor statt und wurde von Vertretern aller im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien besucht – mit Ausnahme der CDU/CSU und der AfD. Dieser Fakt hätte sowas von ausgeschlachtet werden müssen!

Bundesgesundheitsminister Spahn (bitte schaut euch diesen Teil der Debatte nicht an, eure Nerven!) behauptete in der verlinkten Debatte sogar dreist, er hätte aus dem regen Austausch mit Betroffenen viel mitgenommen.

Wieso lässt ihr eine dreiste Falschaussage wie diese einfach stehen?

Kein Betroffenenverband selbstbestimmt lebender Menschen wurde angehört. Ich persönlich kenne keine Aktivisten, die persönlich mit Herrn Spahn über dieses Gesetz gesprochen haben. Sarah ebenso wenig, und sie hat definitiv mehr Kontakte als ich. Der einzige Kontakt zu einer selbstbestimmt lebenden Person mit Dauerbeatmung, der mir bekannt ist, wurde ihm von Raul Krauthausen unfreiwillig auferlegt.

Mein Assistent meinte gerade sehr treffend zum Thema Spahn: „Bester Gesundheitsminister, frag‘ einfach die Pharmaindustrie!“

Ich habe Freunde in der SPD und möchte selbstverständlich weiterhin einen regen Austausch und eine Freundschaft pflegen, aber es fällt mir im Moment schwer bis unmöglich, die Bundespartei noch zu unterstützen, tut mir leider leid. Wobei ich sowieso kein Parteimensch bin, also ist das für mich relativ einfach zu sagen^^

Und selbstverständlich bleibt auch ein großer Teil von mir weiterhin überzeugter Sozialdemokrat.

Die Partei steuert zielsicher auf die 5%-Hürde zu und dürfte sie überspringen – etwas, wofür die Mehrheit der Parteien in diesem Land vergeblich kämpft.

Also herzlichen Glückwunsch!

Und Glückwunsch an die Bundesrepublik Deutschland zu seiner neuen Bundesregierung:

Herzlich Willkommen im Vorhof zur Hölle.

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