Aus die Maus. Und Mathematica.

Aus die Maus. Und Mathematica.

Donnerstag, den 15. Oktober 2020: Zur Vorbereitung auf das neue Semester hielt ich an der Universität Münster einen 30-minütigen Vortrag über das erste Kapitel meiner angefangenen Dissertation. Eine erwartbare Szenerie, die sich an diesem Tag trotzdem so ungewohnt anfühlte.

Es war nicht die Tatsache, dass der Vortrag vor 9 Kollegen in einem Hörsaal stattfand, der für 50 Personen ausgelegt ist. Diese Gegebenheit ist eine von denen, an die sich Menschen in einer Pandemie mit am leichtesten gewöhnen.

Nein, wie viele von euch schon wissen, war der Anlass persönlicher:

Exakt einen Monat vorher, am 15. September, bin ich eigeninitiativ zu meinem Professor und Doktorvater gegangen und habe ihm allerschwersten Herzens den Abbruch meines Promotionsvorhabens verkündet. Somit habe ich am vergangenen Donnerstag meinen vorerst letzten mathematischen Vortrag gehalten.

Demzufolge steige ich Ende Oktober aus der Uni Münster und auch aus der akademischen Welt als Ganzes aus.

Die Gründe für meine Entscheidung, welche ohne Zweifel die Schwerste in meinem bisherigen Leben gewesen ist, möchte ich hier nicht darlegen. Vielen Lesern werde ich sie wahrscheinlich ohnehin schon persönlich oder, wenn nicht, zumindest rudimentär auf sozialen Medien erklärt haben. An dieser Stelle sei nur so viel gesagt: Sie beziehen sich ausschließlich auf den Inhalt sowie auf meine generelle körperliche und mentale Verfassung. Die Kollegen, die Vorgesetzten und die Arbeitsbedingungen waren allesamt lediglich Gründe, weshalb ich diesen Entschluss nicht früher fassen konnte.

Schwer zu prophezeien, dass ich ein solches Büro mit einer solchen Ausstattung nie wieder für mich haben werde?

Das Gegenteil von „Nachtreten“?

Ja, was ist denn nun das gesuchte Wort? „Anpreisen“ vielleicht?

So sehr ihr es auch versucht, ihr würdet es nicht schaffen, mir ein negatives Wort über meine Zeit als Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter abzuringen. Das wette ich.

Ich kann auch alle Menschen, die sich vielleicht gerade überlegen, ob sie in die Wissenschaft gehen sollen, wirklich nur zu diesem Schritt ermutigen. Es ist nicht der „bequeme Weg“, aber ein Weg, der euch tatsächlich sehr viel zurückgeben kann, wenn ihr ihn von Anfang bis Ende richtig angeht (nicht übermotiviert einsteigen, jedes Forschungsprojekt ist ein Marathon und kein Sprint!).

Nein, ihr braucht auch nicht die besten Noten im Studium. Hier war ich in der Spitzengruppe und was hat es mir am Ende gebracht? Wichtiger sind ein stabiler Alltag inklusive mentaler Verfassung und Leidenschaft für ein ganz spezielles Themengebiet innerhalb eures Studiums.

Keine guten Gründe für eine Karriere in der Wissenschaft sind:

  • Geld (ist hoffentlich selbsterklärend, warum dies als primäre Motivation nicht ausreicht).
  • Einzelgängertum und nicht im Team arbeiten wollen (Gefahr der Vereinsamung, für die wirklich schwierigen Details eurer Arbeit wird sich in eurem Umfeld nie jemand interessieren, Natur der Sache).
  • Nicht früh aufstehen müssen (ist ein schlechter Grund, jemand hat’s für euch getestet).
  • Nicht wissen, was ihr sonst wollt oder keine andere Chance für euch sehen (das ist tatsächlich ein noch schlechterer Grund, so nachvollziehbar er für manche sein mag).

Wenn ihr voll Bock drauf habt und euch nur nicht sicher seid, ob ihr „gut genug“ seid, möchte ich gar nicht mehr Details wissen, denn in diesem Fall habe ich wirklich nur einen einzigen Rat für euch:

GO FOR IT!

Angst vorm „Scheitern“

Und was, wenn ihr tatsächlich trotz aller Anstrengung in eurer Disziplin nicht „gut genug“ sein solltet?

Das passiert. Ich für meinen Teil habe zum jetzigen Zeitpunkt selbstverständlich noch nicht den Heiligen Gral des Umgangs mit dieser Tatsache gefunden, aber ich weiß, dass ich mir mein Scheitern wirklich offen eingestehen möchte.

Ja einige Leser werden jetzt bestimmt stutzig und möchten direkt einwerfen „Aber Tim, das ist doch kein Scheitern, nur eine Erkenntnis/ein Perspektivenwechsel“.

Ich verstehe eure Intention und gehe trotzdem nicht ganz d’accord. Die Definition von Erfolg ist in der akademischen Welt recht geradlinig (dies ist für mich keine schlechte Sache!) und egal ob ihr studiert oder habilitiert, jedes Forschungsvorhaben dient letztendlich einem übergeordneten Ziel, sowohl inhaltlich als auch in der persönlichen Karriere. Wo es offenkundig Gewinner gibt, müssen auch (möglicherweise pro Gewinner sogar mehrere) Verlierer stehen und es stellt sich für mich die Frage: Muss „Scheitern“ in unserer Gesellschaft wirklich so negativ behaftet sein, dass alle diesen Begriff möglichst sofort von sich oder von einem weisen möchten?

Der alte (und schöne) Spruch, dass jedes Scheitern gleichzeitig eine Chance beinhaltet, wäre auch eine leere Aussage, gäbe es überhaupt kein Scheitern.

Diametral entgegengesetztes Forschungsgebiet und auch eine leicht unterschiedliche Motivation, aber ich muss leider sagen, ich kann diese Frau sehr, sehr gut verstehen. Was meinerseits jedoch keine Anklage gegen die wissenschaftliche Welt sein soll, denn ein Fach, in dem eine Aussage oder ein Beweis sich nun mal naturgemäß mit „richtig“ oder „falsch“ bewerten lässt, schafft auch ganz automatisch Raum für ein Scheitern.

Ich bin nur dafür, dass wir dafür in unserer Gesellschaft ebenso diesen Raum schaffen.

Was kommt jetzt?

Dieser Frage widme ich eines Tages einen eigenen Beitrag, wenn ich sie auch nur irgendwie ansatzweise beantworten kann. Im Moment spinnt wirklich alles durch meinen Kopf und euch an meinen Gedanken teilhaben zu lassen wäre nicht hilfreich, sondern für euch nur eine Tortur. Nur so viel sei gesagt, auch wenn das jetzt völlig banal klingt:

Ich würde liebend gerne vorwiegend Fließtexte schreiben, bei denen ich die Spracherkennungssoftware gewinnbringend einsetzen kann! Bei der Arbeit mit mathematischem Zeichensatz, mit Tabellen oder mit Code kann sie auch verwendet werden, jedoch nicht annähernd mit einem vergleichbaren Effizienzgrad.

Ich schreibe jetzt diesen Blogbeitrag innerhalb von 90 Minuten mitten in der Nacht herunter, die gleiche Menge an Zeit und Energie hätte vielleicht für eine halbe Seite mathematischer Formeln gereicht.

Ich möchte mich wirklich bei allen Menschen aus meinem Umfeld bedanken, die in den letzten Wochen sehr unterstützend zu mir gehalten haben. Auch, wenn ich bestimmt manche von euch enttäuscht habe, ich nehme diese Unterstützung wirklich sehr wahr! Lasst mich trotzdem eine Sache monieren, die gleich von mehreren Leuten in einer, vielleicht weniger überspitzten, Form an mich herangetragen worden ist, und zwar:

Ich lerne dich heute von einer völlig neuen Seite kennen, du bist ja richtig offen und nett!

Völlig klar, dass sich diese Eigenschaften vorher mit meinem Mathematikersein ausgeschlossen haben. 😛

Nein, im Ernst, vielleicht habe ich mich in meiner Ausdrucksweise tatsächlich etwas verändert, jedoch so krass und innerhalb so kurzer Zeit glaube ich nicht.

Bestimmt ist euch aufgefallen, dass ich in diesem Beitrag bisher meine Behinderung noch gar nicht erwähnt habe. Ist sie an meiner Entscheidung völlig unschuldig? Mitnichten, dennoch hatte dies einen sehr bewussten Grund. Andere Menschen mit Behinderung könnten dies lesen und sehr schnell als eine Negativempfehlung für den wissenschaftlichen Bereich als Ganzes verstehen. Das möchte ich auf keinen Fall auf dem Gewissen haben. Jedes Behinderungsbild ist individuell und die allermeisten Folgen daraus lassen sich zum Glück wunderbar ausgleichen, wenn man nur verständnisvolle Vorgesetzte hat. Was ich zum Glück vom ersten Tag an hatte!

Aber nicht alle Folgen sind überhaupt ausgleichbar, selbst nicht in der Theorie. Über meine Depression hatte ich auf dieser Seite auch bereits geschrieben.

Und zu guter Letzt: Irgendeiner muss in jeder schlechten 80er-Jahre High School- oder College-Komödie auch die Rolle des unbeliebten und ultimativ scheiternden Nerds übernehmen. Beste Noten, bestes Elternhaus – alles nur, um am Ende doch dem sympathischen Helden zu unterliegen.

Ich erkläre mich ab jetzt bereit und habe auch kein besonderes Problem damit! 🙂

Und wer weiß, vielleicht gibt es ja auch zu diesem Film in ein paar Jahren einen zweiten Teil mit vertauschten Rollen. Mein Doktorvater hat jedenfalls betont, dass seine Tür potenziell weiterhin offen stehen würde.

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